Auswanderungsschulen
Das hebräische Wort Hachschara bedeutet „Tauglichmachung“ und bezeichnete die organisierte Vorbereitung auf die Einwanderung – Alija („Aufstieg“) – nach Palästina/Israel. Im Jahr 1920 gründete sich die Hechaluz, eine weltweite Organisation, die die Hachschara und die Alija organisierte, indem sie in ganz Europa und insbesondere im Deutschen Reich so genannte „Auswanderungsschulen“ zunächst für junge Erwachsene einrichtete. Als dann im Nazi-Deutschland immer mehr Kinder und Jugendliche aus den öffentlichen Schulen entlassen wurden, gründete die Jüdische Jugendhilfe u.a. sogenannte „Alija-Schulen“, um die Unterrichtung fortzusetzen und später die Schülerinnen und Schüler vor der Deportation zu retten [Paetz/Weiss 1999].
Der Vorschlag zur Einrichtung von jüdischen Auswanderungsschulen wurde 1901 von den beiden Frauenrechtlerinnen und Sozialarbeiterinnen Berta Pappenheim und Sara Rabinowitsch unterbreitet, die in einem Reisebericht zur Bekämpfung des Mädchenhandels in Galizien (Südpolen und Westukraine) die Empfehlung aussprachen, die teilweise in bitterer Armut lebende jüdische Bevölkerung auf eine Auswanderung nach Kanada und in die Vereinigten Staaten mittels eines geeigneten Handfertigkeits- und Gartenbauunterricht für die männlichen bzw. Hauswirtschaft und Kinderpflege für die weiblichen Jugendlichen vorzubereiten. Die Leitungen solcher Auswanderungsschulen sollten mit Vereinen und Behörden in Kanada und USA in Kontakt treten, um dort Arbeitsstellen für Jugendliche ab 15 Jahren ausfindig zu machen. Später sollten Eltern und Geschwister nachgeholt werden können [Simon 1904].
In den Hachschara- und Alija-Schulen fließen mehrere politische und pädagogische Bewegungen zusammen: Aufgrund des wachsenden Antisemitismus im Kaiserreich und der Verdrängung der jüdischen Bevölkerung aus kaufmännischen und intellektuellen Berufsfeldern, sollten in beruflichen Umschulungskursen neue Erwerbsmöglichkeiten in Landwirtschaft, Gartenbau und Handwerk eröffnet werden. Hierfür wurden verschiedene „Israelitische Gartenbauschulen“ gegründet, so 1893 in Ahlem bei Hannover, die zunächst nicht auf eine Auswanderung vorbereiteten, sondern „Siedlerschulen“ waren, um sich in Deutschland niederzulassen. In Groß-Gaglow bei Cottbus wurde 1930 die erste geschlossene „jüdische Siedlung“ mit eigener Schule aufgebaut, in Frankfurt/Oder gab es ab 1940 ein Kibbuz, aus dem allerdings die Nazis dann ein Arbeitslager machten. Alle diese Einrichtungen wurden von der Hechaluz im Nazi-Deutschland zu Hachschara-Schulen umgewandelt, wobei 1919 der Markenhof bei Dreisam im Schwarzwald bereits als zionistisches Auswanderungslehrgut gegründet worden war. Zur Vorbereitung auf das neue Leben in Palästina sollten in den Auswanderungsschulen erste Erfahrungen mit dem Kibbuz-Gedanken gemacht und diese kollektive Produktions- und Lebensgemeinschaft erprobt werden. Aber auch die jüdischen Jugend-, Wander- und Pfadfinderbünde sowie reformpädagogische Schul- und Erziehungskonzepte beeinflussten die praktische Arbeit stark [Cossart/Pilarczyk 2007].
Nach der Machtübernahme der Nazis wurden diese Vorläufer zu einem gestuften und in den Berufsfeldern ausdifferenzierten System von, wie sie offiziell bezeichnet wurden, „Vorbereitungslehrgängen für schulentlassene jüdische Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene“ mit reichsweiten Organisationsstrukturen, internationalen Verbindungen, Fort- und Weiterbildungsstätten und Fachzeitschriften ausgebaut [Paetz/Weiss 1999; Meier 2004; Cossart/Pilarczyk 2007; Michaeli/Klönne 2007]
Die Hachschara-Stätten waren für junge Erwachsene von 18 bis 30 Jahren, zumeist handelte es sich um Lehrgüter für Landwirtschaft, Gartenbau und Viehzucht, in geringerer Zahl für Forstwirtschaft und handwerkliche Tätigkeiten. Nachgewiesen sind ca. 300 Einrichtungen in Deutschland, in denen zwischen 1933 und 1943 über 20.000 Personen auf die Auswanderung vorbereitet wurden.
Nach 1934 wurden vermehrt die Mittleren-Hachschara für Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren eingerichtet, bei denen es um die Verbindung von Berufsbildung, Auswanderung und Festigung einer jüdischen Identität ging. Im Unterricht wurde vor allem auch Iwrit vermittelt, das in Palästina/Israel gesprochene und geschriebene Neuhebräisch. Solche „Mi-Ha“ wurden vor allem in Brandenburg geschaffen, vermutlich aufgrund der Nähe zu Berlin. Dort gab es bis 1943 ca. 24 Einrichtungen.
Aus dem „Hilfskomitee für die Jüdische Jugend“ ging 1933 die „Jüdische Jugendhilfe“ hervor, die mit dem Programm Jugend-Alija Kinder bis 14 Jahren versorgte, vor allem Waisen sowie Minderjährige, deren Eltern bereits verhaftet oder getötet worden waren. Diese Kinder wurden relativ rasch nach Palästina gebracht, wo sie in speziellen Kibbuzim aufgenommen wurden und dort eine zweijährige berufliche Ausbildung erhielten. Mit der Jugend-Alija sollten vor allem Kinder vor der Deportation gerettet werden, für etwa 7.500 Mädchen und Jungen ist dies gelungen.
Eine Besonderheit stellen die Jugend-Alija-Schulen in Berlin dar. Nachdem ab 1936 die Zahl der ausreisewilligen jüdischen Jugendlichen stark anstieg und diese zugleich immer häufiger von den Nazis aus den öffentlichen Schulen ausgeschlossen wurden, beschloss die Jüdische Jugendhilfe die Gründung und Vollfinanzierung einer Schule für Jugendliche, die sich zur Alija gemeldet hatten, um diese bis zum Zeitpunkt ihrer Auswanderung in den Fächern auszubilden, die für das Leben und Arbeiten in Palästina von Bedeutung waren. Für Jugendliche, die nicht in Berlin wohnten, wurden zwei Jugendwohnheime eingerichtet. Der Unterricht in den oberen Klassen fand in Hebräisch statt, in dem reformpädagogisch orientierten Konzept wurde koedukativ gelehrt. 1939 wurden zwei weitere „Jual-Schulen“ in Berlin eröffnet, die ebenfalls aus den öffentlichen Schulen entlassene Jugendliche aufnahmen. In diesem Jahr wurden etwa 200 Schülerinnen und Schüler in den Jual-Schulen in jüdischen Fächern (Hebräisch, jüdische und zionistische Geschichte, Palästinakunde, Bibel) sowie in naturwissenschaftlichen und musisch-ästhetischen Fächern unterrichtet. Danach wurden auch schulentlassene Kinder ab 12 Jahren beschult. 1941 wurde die Jüdische Jugendhilfe von den Nazis aufgelöst und im Spätherbst wurden die Jual-Schulen verboten. Die Kinder und Jugendlichen wurden zu leichterer Zwangsarbeit eingeteilt und ab 1943 in die Konzentrationslager deportiert, andere tauchten unter und konnten teilweise nach Palästina oder Südamerika gelangen, oftmals organisiert über die Auslands-Hachschara, die es in ganz Europa gab. [Schwersenz 1988]
Cossart, Ilka von; Pilarczyk, Ulrike (2007): Hachschara – Der Weg in ein neues Leben: In: Michaeli, Ilana; Klönne, Irmgard (Hrsg.): Gut Winkel – die schützende Insel. Hachschara 1933-1941. Berlin: LIT-Verlag, 223-248. – Meier, Axel (2004): Die Jugend-Alija in Deutschland 1932 bis 1941. In: Maierhof, Gudrun; Schütz, Chana; Simon, Hermann (Hrsg.): Aus Kindern wurden Briefe. Die Rettung jüdischer Kinder aus Nazi-Deutschland. Berlin: Wallstein, 70-94. – Michaeli, Ilana; Klönne, Irmgard (Hrsg.) (2007): Gut Winkel – die schützende Insel. Hachschara 1933-1941. Berlin: LIT-Verlag. – Paetz, Andreas; Weiss, Karin (Hrsg.) (1999): „Hachschara“. Die Vorbereitung junger Juden auf die Auswanderung nach Palästina. Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg. – Schwersenz, Jizchak (1988): Die Jugend-Alija-Schule in Berlin. In: ders.: Die versteckte Gruppe. Ein jüdischer Lehrer erinnert sich an Deutschland. Berlin: Wichern-Verlag, 63-82. – Simon, A.M. (1904): Jüdische Kulturaufgaben in Galizien. Berlin: Arthur Scholem.