Bahnhofsschulen

Erziehung und Beschulung im Prostitutionsmilieu ist eines der ältesten Handlungsfelder der Sozialen Bildungsarbeit überhaupt. Ab dem 16. Jahrhundert werden Rettungshäuser für „gefallene Mädchen“ gebaut, um diesen Möglichkeiten des Ausstiegs aus dem Milieu anzubieten. Auch die in Klöstern und anderen kirchlichen Einrichtungen in vielen Ländern Mittel- und Westeuropas aufgebauten Magdalenenheime widmeten sich der Rehabilitation reuiger junger Dirnen (der fußwaschenden Sünderin Maria Magdalena der Bibel wird zugeschrieben, Prostituierte gewesen zu sein). In Irland gab es die Magdalenen-Wäschereien, in denen die Mädchen arbeiten mussten. Gegenwärtig wird die Geschichte dieser Heime aufgearbeitet, denn die jungen Frauen wurden regelrecht interniert und etliche starben an den Folgen von Misshandlungen. Bis Ende des 20. Jahrhunderts existierten in Deutschland zahlreiche derartige geschlossene Erziehungseinrichtungen der Gefährdetenfürsorge für als „sittlich unreif“, „arbeitsungewohnt“ oder „verwahrlost“ bezeichnete Mädchen und Frauen, die häufig nicht ausschließlich Prostituierte, sondern ledige Mütter oder einfach nur sexuell aktive Frauen waren. Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es im deutschsprachigen Raum mehr als 400 Rettungshäuser, überwiegend für junge Frauen. Sich prostituierende männliche Jugendliche wurden indes in die gefängnisgleichen Correctionsanstalten eingewiesen, die der Armenpolizei unterstanden. Eine der wenigen und zugleich eine der berühmtesten pietistischen Rettungseinrichtungen für straffällig gewordene junge Männer ist das „Rauhe Haus“ in Hamburg (1833 eröffnet). Zur selben Zeit gründete der Italiener Johannes Bosco, ein Salesianermönch, katholische Rettungshäuser in verschiedenen Ländern Europas; unter dem Namen Don-Bosco-Einrichtungen sind sie bis in die Gegenwart in Lateinamerika vor allem in der Berufsbildung von großer Bedeutung. Demgegenüber werden heutzutage überwiegend zwei gestufte Handlungskonzepte verfolgt: Anlaufstellen, in denen Bildung eine untergeordnete Rolle spielt, und Ausstiegsprojekte, in denen Schulabschlüsse und berufliche Qualifizierung von zentraler Bedeutung sind.
[Knauers Konversationslexikon 1932; Meumann 1995; Krischer 2016; Weber/Sierra Jaramillo 2013]

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Zwangsprostitution ist eine Dimension des Straßenlebens von Kindern und Jugendlichen. Sie ist mit dem Bahnhofsmilieu verknüpft und führt zumeist zu extremen Lebenslagen. Kinder- und Jugendprostitution sind trotz ihrer öffentlichen Sichtbarkeit dennoch gesellschaftlich tabuisierte soziale Kontexte. In der historischen und globalen Perspektive zeigt sich, dass der Einstieg in die Prostitution ganz überwiegend im Jugendalter erfolgt. Dennoch sind die Jüngsten zwischen neun und zwölf Jahre alt, einige auch noch jünger. Es gibt als Wohngemeinschaften getarnte Kinderbordelle, Zuhälterringe und zunehmend das Darknet, in denen oftmals sehr kleine Mädchen und Jungen angeboten werden. Manche Kinder und Jugendliche stammen aus bürgerlichen Wohnvierteln und gehen einer Gelegenheitsprostitution nach, um ihr Taschengeld zu erhöhen. Viele Ausreißer landen fast zwangsläufig am Bahnhof und sind dort erst mal auf sich alleine gestellt. Auch Junkies stammen teilweise aus wohlhabenden Familien, werden drogenabhängig und landen auf dem Strich. Vermehrt arbeiten junge Zugewanderte am Bahnhof, die manchmal zur Prostitution gezwungen werden, manchmal auf Grund eines illegalen Aufenthaltsstatus keine andere Einkommensquelle haben. Die Zuhälterszene und der Kinderhandel, das Dealermilieu und die Prostitution bilden ein komplexes Konglomerat, und internationaler Menschenhandel hat Verknüpfungen mit dem Sextourismus in Thailand oder der Dominikanischen Republik. Im Globalen Süden ist Kinderprostitution ein immenses Problem. [Bader/Lang 1991; Pfennig 1996; Metje 2005; Benkel 2010; Thomas 2011; Schönnagel 2016]

Während (→) Straßenschulen oftmals als Präventionsansätze auf ein Straßenleben ausgerichtet sind, welches durch ‚solide‘ Arbeit überwiegend im informellen Sektor geprägt ist, auch wenn dies im Einzelfall zu dramatischen Lebensbedingungen inklusive Drogenkonsum und Prostitution führen kann, geht es bei den Anlaufstellen zumeist darum, erst mal das schiere Überleben zu sichern, sodass vorwiegend intervenierend-reaktiv gearbeitet wird.

Kinder und Jugendliche stranden an den Bahnhöfen der Großstädte, und deshalb gibt es in Delhi (Indien) die Bahnhofsschule „Gleis 6“, die den dort lebenden Kindern im Wortsinn „Erste Hilfe“ bietet, die auf den Bahnsteigen hausen, betteln oder stehlen müssen, Flaschen sammeln oder andere Formen von Kinderarbeit verrichten und nicht in die Schule gehen, weil sie jeden Tag ums Überleben kämpfen müssen. [www.strassenkinder-vom-bahnhof]

Sie stranden in Medellín, einer Millionenstadt in Kolumbien, und deswegen machen im Projekt „Patio 13“ hauptsächlich Pädagogikstudierende kolumbianischer und deutscher Universitäten jungen Mädchen auf dem Babystrich, schwangeren Teenagern und Kindermüttern, Waisen und nach Vergewaltigungen HIV-infizierten Jugendlichen, Binnenvertriebenen aus den Bürgerkriegsregionen oder Flüchtlingen aus den umliegenden Nachbarstaaten Kolumbiens auf einem kleinen öffentlichen Platz im Zentrum der Stadt Bildungsangebote, die auf eine Verbesserung der Lebenssituation und der Zukunftsaussichten dieser jungen Menschen abzielen. [Weber/Jaramillo Sierra 2013; www.patio13.de]

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Und sie stranden in Vancouver (Kanada) in der „offenen Szene“ im alten Hafenviertel Gastown, wo hunderte junge, ältere und alte Menschen leben, die auf den Gehsteigen schlafen, in Einkaufswagen, Rucksäcken und Plastiktüten ihr Hab und Gut umhertragen, sich Drogen spritzen, Schnaps und Bier trinken und versuchen, irgendwie zu überleben. Allein in 2016 gab es dort mehr als 600 Drogentote im Alter zwischen 12 und 19 Jahren. Für die Minderjährigen gibt es spezielle Gesundheitsdienste (Street nurses), Tafeln (Food banks), Suppenküchen (Soup kitchen) und Straßenhospitäler (Street clinics), sie können sich in offenen Einrichtungen (Youth centres) aufwärmen, duschen und dort ihre Kleider waschen, und in geschlossenen Projekten (Day treatment programs) mit beschränkten Plätzen werden neben der Entgiftung auch Familiengespräche und Beratung, Freizeitaktivitäten und individuelle Bildungsmöglichkeiten (Academic courses) angeboten. [Smith et al. 2015] Das ist exakt die sozialarbeiterische Infrastruktur, die auch in St. Georg vorhanden ist, dem Bahnhofsviertel in Hamburg. [Warzecha 2000; Metje 2005; Fehlberg 2011; www.basisundwoge.de]

In Ausstiegsprogrammen wird dann der Neuanfang angebahnt. Solche Angebote werden von Einrichtungen sozialer Arbeit bei Prostitution, aber auch von Bildungs- und Beschäftigungsträgern durchgeführt: Beratung, Vermittlung und Begleitung in eine berufliche Ausbildung, teilweise wird ein Schulabschluss nachgeholt; Kooperation und Vernetzung mit Wohnprojekten, Entgiftungen, dem Jobcenter, der Schuldnerberatung, Gesundheitsdiensten. Studien zeigen, dass viele während ihrer Prostitutionstätigkeit eine höhere Schulbildung oder Berufsausbildung abschließen. Dennoch ist der Ausstieg schwierig und gelingt vielfach nicht beim ersten Versuch, sondern durchschnittlich sind fünf bis sechs Anläufe die Regel. Von zentraler Bedeutung sind soziale Beziehungen und Kontakte sowie die Verbesserung der gesundheitlichen Situation, insbesondere müssen traumatische Erlebnisse bearbeitet, frühere enge Beziehungen wiederhergestellt und ein neues heterogenes soziales Netzwerk aufgebaut werden. Herabwürdigung, Diskriminierung und Stigmatisierung im familiären, sozialen und gesellschaftlichen Umfeld, aber auch bei Behörden sind verbreitet, entsprechend hoch sind die individuellen und strukturellen Barrieren, die es zu überwinden gilt, wenn eine Person aus der Sexarbeit aussteigen will. Für Migrantinnen und Migranten fehlen oftmals Angebote. [BMFSFJ 2016]

Bader, Birgit; Lang, Ellinor (Hrsg.) (1991): Stricher-Leben. Hamburg: Galgenberg. – Benkel, Thorsten (Hrsg.) (2010): Das Frankfurter Bahnhofsviertel. Devianz im öffentlichen Raum. Wiesbaden: VS. – BMFSFJ (2016) - Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugendliche: Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung zum Bundesmodellprojekt Unterstützung des Ausstiegs aus der Prostitution. – Döhring, Nicola (2014): Prostitution in Deutschland – Eckdaten und die Veränderung durch das Internet. Sexualforschung 27 (2), 99-137. – Fehlberg, Anne (2011): Sozialarbeit in der Stricher-Szene. Über die Situation von Strichern und mögliche Handlungskonzepte am Beispiel von Stricherprojekten. Marburg: Tectum. – Fink, Karin; Werner, Wolfgang B. (2005): Stricher. Ein sozialpädagogisches Handbuch zur mann-männlichen Prostitution. Lengerich: Pabst Science Publishers. – Knauers Konversationslexikon (1932): Heimstätte für sittlich gefährdete Mädchen, Spalte 931. – Krischer, André (2016): Ausgebeutet im Namen der Moral. In: Damals. Das Magazin für Geschichte. Nr. 9, 7. – Metje, Ute Marie (2005): Zuhause im Übergang. Mädchen und junge Frauen am Hamburger Hauptbahnhof. Frankfurt und New York: Campus. – Meumann, Markus (1995): Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord. Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft, München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag. – Pfennig, Gabriele (1996): Lebenswelt Bahnhof. Sozialpädagogische Hilfen für obdachlose Kinder und Jugendliche. Neuwied: Hermann Luchterhand. – Schönnagel, Holger (2016): Geteilte Gemeinschaft und mann-männliche Prostitution. Eine ethnografische Studie im Kontext einer Gaststätte. Wiesbaden: Springer VS. – Smith, Annie; Stewart, Duncan; Poon, Colleen; Peled, Maya; Saewyc, Elizabeth (2015): Our communities, our youth: The health of homeless and street-involved youth in British Columbia. Vancouver: Mc CrearyCentre Society. – Thomas, Stefan (2011): Identität und Exklusion von Postadoleszenten: „Die Kinder vom Bahnhof Zoo“. In: Psychologie und Gesellschaftskritik 35, 2, 93-112. – Tiede, Isabell (1997): Mädchenprostitution. Ein Versuch, aus dem Elternhaus auszubrechen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. – Warzecha, Birgit (Hrsg.) (2000): Lehren und Lernen an der Grenze. Ein Projekt am Hamburger Hauptbahnhof. Münster: LIT Verlag. – Weber, Hartwig; Jaramillo Sierra, Sara (2013): Bildung gegen den Strich. Lebensort Straße als pädagogische Herausforderung. München: Don Bosco Medien.