Reflexionen

Das Lexikon fasst in mehr als fünfzig Artikeln die wichtigsten Fakten zum jeweiligen Schulkonzept in seiner historischen Entwicklung und weltweiten Ausdifferenzierung knapp zusammen. Im Folgenden sind hierzu einige übergreifende schultheoretische Überlegungen zu finden.

Armut und Migration

Die in diesem Lexikon dargestellten Schulen reagieren in ihren Konzepten und Organisationsformen im Wesentlichen auf zwei soziale Fragen: Massenarmut der Bevölkerung ohne den Ausgleich durch leistungsfähige soziale Sicherungssysteme erzwingt u.a. Kinderarbeit, die direkte und gravierende Auswirkungen auf die Beschulung hat. Auch Migration ist eine Strategie, die viele Menschen wählen, um der Armut zu entkommen, eine Entscheidung, aus der sich allerdings ebenfalls Probleme in der Inanspruchnahme von schulischer Bildung ergeben können. Beide gesellschaftlichen Dynamiken und deren Folgen machen passgenaue pädagogische Konzepte erforderlich, die auf solche lebensweltlichen Strukturen abgestimmt sind und somit den Schulbesuch möglichst vieler Heranwachsender gewährleisten können.

Während sich in der feudalen Gesellschaft des Mittelalters trotz immenser Armut keine Soziale Frage gestellt habe, weil das Individuum aus der Abhängigkeit von kirchlicher oder weltlicher Lehnherrschaft nicht „herausfallen“ konnte, sondern in diesem quasi-geschlossenen System verblieb, das aber immerhin ein Dasein – wenngleich oft notdürftig – absicherte, befände sich das Individuum in der modernen Gesellschaft aufgrund des „freien Systems der Lohnarbeit“ in einer grundlegend „destabilen“ sozialen Lage und könne deshalb sehr leicht in absolute oder zumindest relative Armut geraten. Dennoch dürften, so Robert Castel weiter, in der historischen Betrachtung die „verwundbaren“ sozialen Gruppen – Waisen, Kranke, Witwen, Gebrechliche, Versehrte, Kriminelle – nicht einfach einander gleichgesetzt werden, weil sich die geschichtlich je konkrete Gestalt von Ausgrenzung, sozialer Isolierung oder Marginalisierung stetig wandeln und es, mit Serge Paugam, unterschiedliche Formen des gesellschaftlichen Umgangs mit Armut gibt. Dies sind einige Gründe, weshalb es auch nicht nur eine Form der Armenschule geben kann. [Castel 2008, S. 15ff.; Paugam 2008]

Als Mitte des 19. Jahrhunderts in sozialreformerischen Kreisen die ,Soziale Frage‘ der Armut mit allem Nachdruck gestellt wurde, versuchte man in Europa sowie in Nord- und Südamerika gerade, die zumeist vier Jahre umfassende Allgemeine Schulpflicht flächendeckend und schichtunabhängig einzuführen. Doch dieses politische Großvorhaben drohte an der ungelösten ‚Question sociale‘ zu scheitern: Weil die Kinder aus den sehr armen Bevölkerungsschichten von klein auf in den ökonomischen Prozess eingebunden waren, um durch harte Arbeit in der Landwirtschaft und Industrie zum spärlichen Familieneinkommen beizutragen, blieb ihnen kaum Zeit für eine regelmäßige Teilnahme am Unterricht. Massenarmut und Schulpflicht bilden somit nachgerade ein Gegensatzpaar. In den meisten Ländern des Globalen Nordens kann schon seit längerem, unterstützt insbesondere durch die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe, die je nach Staat zwischen acht bis elf Jahre dauernde Schulpflicht fast umfassend durchgesetzt werden, und auch sehr arme Heranwachsende erreichen oftmals höhere Bildungsabschlüsse. Im Globalen Süden hingegen, in Gesellschaften mit überaus dramatischen sozialen Spaltungen, ist die Massenarmut weiterhin ein Schlüsselproblem im Zugang zum Schulsystem. Die im Lexikon beschriebenen Einrichtungen und Konzepte fokussieren fast durchweg auf dieses Wechselverhältnis von sozialer Ungleichheit und Bildungsteilhabe. [UNESCO 2020]

Das sich im Mittelalter herausbildende Armenwesen orientierte sich wesentlich an der Zugehörigkeit des Individuums zu einer Gemeinde oder einer Stadt, die dann verpflichtet waren, die erforderlichen Fürsorgeleistungen aufzubringen. Die Bedürftigkeit allein reichte nicht aus, sondern es musste zweifelsfrei geklärt sein, dass man dieser Gemeinschaft juristisch zugehörte. Dieser Nachweis ließ sich am sichersten durch die Ortsansässigkeit erbringen. In den sich nach und nach in ganz Europa herausbildenden kommunalen Fürsorgeordnungen wurde die Gewährung von Hilfeleistungen davon abhängig gemacht, dass die Bedürftigen sich zumindest seit einigen Jahren in der Gemeinde oder in der Stadt aufhielten. Leistungsberechtigungen wurden mit Bezug auf einen dauerhaften Aufenthalt am Ort somit an den Unterstützungswohnsitz gebunden. Wer diesen Beleg nicht erbringen konnte – Vaganten, Flüchtlinge, Wanderarbeiter –, wurde zumeist von der Berechtigung ausgenommen. [Albrecht 2005]

Bei der Einführung der Allgemeinen Schulpflicht ab dem späten 17. Jahrhundert wird letztlich dieser Konvention gefolgt: Junge Menschen gehen dort zur Schule, wo sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Der Bildungswohnsitz ist eine Rechtsnorm des Zugangs zum Schulsystem, die sich ebenfalls in einer langen historischen Entwicklung herausgebildet hat, und in der eine zeitliche Dimension (Aufenthaltsdauer) mit einem räumlichen Kriterium (Wohnsitz) verknüpft ist. Die Schulen sind somit für jene Schulpflichtigen zuständig, die in ihrem jeweiligen Einzugsgebiet wohnen. Den meisten Heranwachsenden wird dadurch ihr Bildungsrecht gesichert – anderen hingegen jedoch verwehrt: Wenn junge Menschen keinen festen Wohnsitz haben oder zwischen zwei Staaten pendeln, ist juristisch zu klären, welche Schule sie aufnehmen muss oder welches Jugendamt im Notfall zuständig ist. Kinder und Jugendliche, deren Lebenspraxis durch Mobilität oder Migration gekennzeichnet ist, können folglich durch die Bindung des Anspruchs auf öffentliche Leistungen an eine dauerhafte Niederlassung an einem Ort in ihren Bildungsmöglichkeiten benachteiligt sein.

Mit der Herausbildung der Nationalstaaten und der zunehmenden Bedeutung moderner, bürokratisch verfasster gesellschaftlicher Institutionen, weitet sich die Feststellung der Leistungsberechtigung von der Gemeindezugehörigkeit auf die Staatsbürgerschaft aus. So haben jetzt Bedürftige, insofern sie staatsrechtlich Angehörige des Landes sind, ein Anrecht auf Fürsorge auch an einem Ort, an dem sie nicht geboren sind, bislang nie gewohnt haben oder sich nur vorübergehend aufhalten. Sozialleistungen können heutzutage bargeldlos noch in die entlegensten Winkel der Erde überwiesen werden, die Bedürftigen müssen nicht mehr zwingend physisch im Einzugsbereich der sozialen Institution anwesend sein. Gleichwohl greifen selbst die globalisierten Gesellschaften zur Regulierung von Mobilität und Migration auf das Konstrukt des gewöhnlichen Aufenthalts zurück, um den Zugang von Unterstützungsleistungen oder Bildung zu begründen. [Castel 2008, 71]

Trotz weit verbreiteter mobiler Lebenspraxis haben die Institutionen der Jugendhilfe und Schule immer noch einen rechtlich definierten Ort, auf den sie zur Bestimmung von Teilhaberegeln referieren. Diesem Prinzip folgend wurden weltweit Systeme des lebenslangen Lernens aufgebaut, die durch zwei grundlegende Strukturmomente gekennzeichnet sind:

In ihren Zeitstrukturen basieren sie auf einem altersspezifischen Gliederungsschema aus der Früh- bzw. Elementarbildung (0 bis 6 Jahre), Primarbildung (6 bis 10 Jahre), Sekundarbildung (10 bis 16/18 Jahre), Berufsbildung (16 bis 18 Jahre), akademischen Bildung (18 bis 25 Jahre), Erwachsenenbildung bzw. berufliche Weiterbildung (18 bis 67 Jahre) und Seniorenbildung (ab der Verrentung). In dieser institutionellen Sequenzierung bauen einzelne Bildungssegmente aufeinander auf und beruhen auf der Vorstellung einer fortschreitenden, linearen Lernentwicklung des Subjekts. Gesellschaftlich wird erwartet, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene diese Bildungssysteme altersangemessen und möglichst ohne Unterbrechung durchlaufen (zeitliche Kontinuität).

In ihren Raumstrukturen beruhen sie auf einer nationalstaatlichen Organisationslogik. Die Migrationspädagogik weist indes seit langem darauf hin, dass die transnationale Lebenspraxis der Bildungssubjekte mit den nationalstaatlichen Bildungssystemen in Widerspruch gerät und auch transnationale soziale Unterstützung nur schwer gewährleistet werden kann [Pries 2008; Homfeldt et al. 2008]. Mobilität und Migration sind in dieser territorialen Begrenzung nicht berücksichtigt. Ein Wechsel zwischen nationalstaatlichen Bildungssystemen ist meistens schwierig, weil z.B. im Herkunftsland erlangte Abschlüsse im Zielland nicht anerkannt werden und/oder erst einmal eine neue Unterrichtssprache erlernt werden muss. Das heißt, in Nationalgesellschaften wird stillschweigend davon ausgegangen, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene ein einziges Bildungssystem – nämlich das des Landes der Geburt – durchlaufen (räumliche Kontinuität).

Wer die eine, die andere oder gar beide Erwartungen nicht erfüllt, bekommt schnell ein Problem – denn chronologische Diskontinuitäten und territoriale Friktionen behindern ein kontinuierliches schulisches Lernen. Schulsysteme müssten sich deshalb in Teilen vom „Ort“ und „Alter“ entkoppeln. Das gelingt bislang mit den in diesem Lexikon beschriebenen Schulkonzepten oftmals besser als mit der herkömmlichen Regel- und Sonderschule. [Schroeder/Seukwa 2018]

Albrecht, Peter (2005): Fürsorge und Wohlfahrtswesen. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band II: 18. Jahrhundert. Herausgegeben von Notker Hammerstein und Ulrich Hermann. München: C.H. Beck. – Castel, Robert (2008): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz: UVK. – Homfeldt, Hans-Günther; Schröer, Wolfgang; Schweppe, Cornelia (Hrsg.) (2008): Soziale Arbeit und Transnationalität. Herausforderungen eines spannungsreichen Bezugs. Weinheim und München: Juventa. – Paugam, Serge (2008): Die elementaren Formen der Armut. Hamburg: Hamburger Edition. – Pries, Ludger (2008): Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften. Frankfurt/Main: Suhrkamp. – Schroeder, Joachim; Seukwa, Louis Henri (2018): Bildungsbiografien: (Dis-)Kontinuitäten im Übergang. In: Dewitz, Nora von; Terhart, Henrike; Massumi, Mona (Hrsg.): Neuzuwanderung und Bildung: Eine interdisziplinäre Perspektive auf Übergänge in das deutsche Bildungssystem. München und Weinheim: Beltz Juventa, 141-157. – UNESCO (2020): Global Education Monitoring Report 2020. Paris.