Friedensdorf International
Seit 1967 bringt das „Friedensdorf International“ verwundete, verstümmelte, verletzte und verbrannte Kinder und Jugendliche aus mehr als vierzig Kriegs-, Krisen- und Armutsregionen der Welt nach Oberhausen. Mit seinem in der Friedenspädagogik verwurzelten Hilfs- und Bildungsansatz stellt es zudem einen in Deutschland einzigartigen Lernort dar. Der das Friedensdorf tragende Verein hat ein Netz von dreihundert Kliniken in Deutschland, Österreich und den Niederlanden geknüpft, in denen die jungen Patientinnen und Patienten kostenlos behandelt werden. Während sie auf die Operation warten oder aber sich von ihr erholen, wohnen die Kinder im „Friedensdorf“ am grünen Rand von Oberhausen. In der Ansammlung mehrstöckiger Gebäude mit spartanisch eingerichteten Zimmern sind 150 Kinder und Jugendliche zur gleichen Zeit untergebracht, eintausend verteilt auf das Jahr, betreut von ca. vierzig Erzieherinnen, Krankengymnasten, Köchinnen und Praktikanten. Zweihundert freiwillige Helferinnen und Helfer unterstützen das Dorf. Mehr als zwei Millionen Euro werden jährlich an Spenden benötigt. Rund um die aufnahmewilligen Kliniken haben sich Freundeskreise gebildet, deren Mitglieder die Kinder regelmäßig besuchen. An siebzehn Orten weltweit hat der Verein gemeinsam mit lokalem Hilfspersonal Ambulanzen aufgebaut, dort werden die leichteren Fälle behandelt.

Die Kinder werden in Afghanistan, Angola oder Armenien in Krankenhäusern und Gesundheitsstationen zusammengesucht. Dort sind sie oftmals bereits seit Monaten, ohne dass eine angemessene medizinische Behandlung möglich ist. Die Mütter schlafen unter Bäumen vor den Krankenstationen, um tagsüber ihre Kinder zu versorgen. Oftmals muss als Verbandsmaterial gebrauchtes Zeitungspapier genutzt werden, die Wunden eitern und entzünden sich, das Fleisch fault. Der Wechsel von Verbänden muss ohne Narkose durchgeführt werden, was in Deutschland bei solchen schweren Verbrennungen oder Verstümmelungen undenkbar wäre. Die Kinder müssen höllische Schmerzen ertragen. Sie sind Kriegsopfer, sind von Tretminen verletzt worden, haben andere schwere Erkrankungen oder angeborene körperliche Missbildungen und Behinderungen. Manche Familien nehmen oftmals tagelange Fußmärsche auf sich, um ihre Kinder in die Hauptstadt zu bringen, wo es dann nochmals einige Wochen dauert, bis die Gruppe zusammengestellt ist, die nach Deutschland geflogen wird.
Es werden konsequent nur solche Kinder nach Deutschland gebracht, für die eine medizinische Versorgung im Heimatland unter den derzeitigen Umständen nicht möglich ist, und es muss eine reelle Chance auf eine erfolgreiche Behandlung in Deutschland gegeben sein. Außerdem wird eine soziale Indikation gefordert, das heißt, es muss nachgewiesen werden, dass die Familien der Kinder eine Behandlung nicht selbst sicherstellen können. Mit den Eltern schließt der Verein einen Vertrag, der bei der Einreise den deutschen Behörden und Kliniken vorgelegt werden muss. Die Heimatländer müssen eine Rückkehrgarantie abgeben, erst dann erteilt die Bundesrepublik eine begrenzte Aufenthaltserlaubnis.
Prinzipiell erhalten nur Kinder im Alter bis elf Jahren ein Visum, auch wenn die Behörden in Ausnahmefällen durchaus flexibler entscheiden. Ein Kind ohne Begleitung eines Angehörigen so weit weg reisen zu lassen ist für viele Familien ein Akt der Verzweiflung – und zugleich ein Beweis des Vertrauens. Die Eltern wollen unbedingt, dass das Kind mitreisen darf, um gesund zu werden. Hierfür vertrauen sie es einer ihnen unbekannten Organisation an, und sie verlassen sich auf das Versprechen, dass sie irgendwann ihr Kind wohlbehalten zurückerhalten werden.
In Deutschland angekommen erleben die jungen Patientinnen und Patienten ein soziales Umfeld, das sich ihnen zuwendet, sie versorgt und nie alleine lässt. Andererseits werden diese sozialen Kontakte relativ distanziert gestaltet, denn es steht ja fest, dass die Kleinen wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren sollen. „Betreuen – nicht binden!“ lautet eine der Regeln, die den ehrenamtlich Tätigen eingeschärft wird. So wird angeraten, die Kinder nicht mit nach Hause zu nehmen, denn Krankenhaus und Station sind für Monate deren ‚Heimat‘, und man will sie nicht durch zu enge private Verbindungen außerhalb dieser ‚Heimat‘ verwirren und in Konflikte bringen. Die Kinder wissen, dass sie nur deshalb so weit von ihren Familien entfernt sind, um gesund zu werden, und nicht, um in Deutschland zu bleiben. Deshalb werden sie auch nicht in deutschen Pflegefamilien untergebracht. Während des Aufenthalts in der Bundesrepublik haben die Kinder zumeist auch keine Kontakte nach Hause, denn oftmals gibt es in den abgelegenen Regionen der Herkunftsländer kein Telefon.
Die Schule im Friedensdorf wird als „Lernhaus“ bezeichnet. Durchweg von ehrenamtlich Tätigen, oftmals solchen mit entsprechenden herkunftssprachlichen Kenntnissen, wird Rechnen und Schreiben angeboten, auch wenn dies nicht die inhaltlichen Schwerpunkte des Programmes sind. Vielmehr sollen den Kindern solche Fähigkeiten vermittelt werden, die für deren zukünftiges Leben in der Heimat von Bedeutung sind. Etliche Patientinnen und Patienten sind in ihren Herkunftsländern noch kränker geworden, weil die dortigen hygienischen Zustände miserabel sind. Deshalb wird vermittelt, dass verunreinigtes Wasser die Ausbreitung lebensgefährlicher Krankheiten zur Folge haben kann oder sich durch regelmäßiges Händewaschen mit Wasser und einfacher Seife die Ansteckungsgefahr reduzieren lässt. Auch handwerkliche Kompetenzen können erlangt werden. Die Tätigkeit im Metall- und Holzbereich soll eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung bieten und auch Arbeitsperspektiven in den Heimatländern aufzeigen. Außerdem werden Dinge hergestellt, die im Friedensdorf Verwendung finden, wie zum Beispiel die Gartenbänke für den „Dorfplatz“ und die Geräte im Spielgarten. Es gibt eine Nähstube, in der gezeigt wird, wie sich Kleidungsstücke ausbessern oder anfertigen lassen. In einer kleinen Lehrküche vermitteln sich die Kinder gegenseitig die Zubereitung einfacher Mahlzeiten.
Doch das Bildungsangebot dient nicht ausschließlich zur Vorbereitung auf das Leben in der Heimat. Es soll auch dazu beitragen, den Kindern den Aufenthalt im Friedensdorf zu erleichtern. Im Vokalbeltraining werden deutsche Wörter und Sätze geübt, die die Kommunikation mit dem Team und den anderen Kindern unterschiedlicher Herkunft verbessert. Im Orientierungskurs lernen neu Angekommene, wie das Leben im Dorf funktioniert. Auch ein Angebot zur „Konfliktbewältigung“ gibt es. Hier wird in Rollenspielen das eigene Verhalten in lebensnahen Situationen reflektiert, wie zum Beispiel der Streit um Spielzeug, und Lösungsansätze für ein friedliches Miteinander werden durchgespielt. Das komplette Angebot in allen Bereichen wird von ehrenamtlich Tätigen abgesichert, so dass im Lernhaus und all seinen Bereichen praktisch ständig Unterstützung benötigt wird. Aufgrund seiner friedenspädagogischen Verwurzelung richten sich die Lernangebote aber auch an in Deutschland lebende Kinder, Jugendliche und Erwachsene, um gleichsam ‚hautnah‘ globales Lernen zu ermöglichen. Einzelpersonen, Gruppen oder Schulklassen können ein Wochenende oder ein paar Tage im Friedensdorf verbringen und die Kinder aus den verschiedenen Ländern kennen lernen, mit ihnen gemeinsam spielen, basteln, lernen, reden und Spaß haben. Die Begegnungsstätte liegt in unmittelbarer Nachbarschaft der Rehabilitationseinrichtung. Spätestens auf dem „Dorfplatz“ treffen die Menschen aus dem Globalen Norden und Süden zusammen.
Gegenfurtner, Ronald (2008): Begegnungen. Oberhausen: Verlag Karl Maria Laufen. – Gegenfurtner, Ronald (2010): Neue Begegnungen. Oberhausen: Verlag Karl Maria Laufen.