Kinder- und Jugendnotdienste
Eine Inobhutnahme ist die vorläufige Unterbringung von Minderjährigen durch das Jugendamt in einer Einrichtung, bei einer geeigneten Person oder in einer sonstigen betreuten Wohnform. Durch die Inobhutnahme wird die vorläufige Wahrnehmung von Funktionen der elterlichen Sorge sichergestellt. Im Interesse eines wirksamen Schutzes der Kinder und Jugendlichen hat das Jugendamt eine vorläufige Hilfestellung zu erbringen, über die unverzüglich die Sorgeberechtigten zu informieren sind. Widersprechen diese der Inobhutnahme, ist die bzw. der Minderjährige an sie zu übergeben oder eine Entscheidung des Familiengerichts herbeizuführen. [Trenczek 2017]
Gemäß § 42 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) ist der Kinder- und Jugendnotdienst als Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder eine Jugendliche in Obhut zu nehmen, wenn er oder sie darum bittet, eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des bzw. der Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und die Erziehungsberechtigten nicht widersprechen, eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann oder ein Minderjähriger ohne deutsche Staatsangehörigkeit unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorgeberechtigte noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten.
Die Inobhutnahme endet mit der Übergabe der bzw. des Minderjährigen an die Erziehungsberechtigten, wenn die oben genannten Voraussetzungen nicht erfüllt sind, also insbesondere keine krisenhafte Situation mehr besteht, beziehungsweise wenn die bzw. der Minderjährige eine Hilfe nach dem Sozialgesetzbuch erhält. Sie endet auch mit Erreichen des 18. Lebensjahres oder grundsätzlich dann, wenn sich die bzw. der Minderjährige durch Abwesenheit länger als zwei Kalendertage der Inobhutnahme entzieht. Die Inobhutnahme soll so kurz wie möglich und so lang wie nötig angelegt sein, sie ist als sozialpädagogische Maßnahme auszugestalten.
Für die Unterbringung im Rahmen einer Inobhutnahme als Maßnahme der Krisenintervention stehen alters- und zielgruppendifferenzierte Einrichtungen der Kinder- und Jugendnotdienste bereit, z.B. Mädchenhäuser, Erstaufnahmen für unbegleitete minderjährige Ausländer, Kinderschutzzentren, Übernachtungsstellen und Jugendwohngruppen, geeignete Personen oder vertraute Menschen aus dem sozialen Umfeld der Minderjährigen sowie andere Orte, die für Kinder und Jugendliche im Krisenfall eine sichere Unterbringung darstellen (z.B. ein Krankenhaus oder die Psychiatrie).
Der stationäre oder ambulante Notdienst hat die Funktion eines Jugendamtes. Seine Zuständigkeit erstreckt sich auf Kinder und Jugendliche rund-um-die-Uhr auf alle Tage des Jahres. Als regelmäßige, tägliche Dienstzeiten der Jugendämter gilt die Zeit an den Werktagen Montag bis Donnerstag von 8 bis 16 Uhr und am Freitag von 8 bis 14 Uhr. Außerhalb dieser Zeiten ist der Kinder- und Jugendnotdienst zuständig für die Inobhutnahme und vorläufige sonstige Leistungen des SGB VIII, soweit sie außerhalb der regelmäßigen täglichen Dienstzeit erforderlich werden.
Zur pädagogischen Arbeit der Kinder- und Jugendnotdienste zählen die Sicherstellung der Grundversorgung (Schlafen, Kleidung, Ernährung), die Schaffung einer Alltagsstruktur, Angebot zur Problembewältigung (Krisenklärung, pädagogische Gespräche), Vermittlung von basalen Alltagskompetenzen, Deutschkurse für ausländische Kinder und Jugendliche, insbesondere für minderjährige unbegleitete Geflüchtete sowie an schulisches Lernen heranführende Angebote für Minderjährige ohne festen Schulplatz. Die schulischen Bildungsangebote werden zumeist von externen Jugendhilfe- oder Bildungsträgern durchgeführt. [Herz 2013]
Die Kinder und Jugendlichen sind manchmal nur eine Nacht in der Einrichtung, für andere kann es mehrere Monate dauern, bis ein neuer Lebensort gefunden ist. Je komplizierter die Lebenslage oder die speziellen Bedürfnisse, desto schwieriger ist es, eine Unterbringung zu organisieren. Entsprechend sind die pädagogischen Angebote nur schwer und schon gar nicht über längere Zeit planbar. Da das Personal überwiegend im Wechselschichtdienst arbeitet, ist es oftmals herausfordernd, eine tragfähige sozialpädagogische Beziehung aufzubauen. Die Lernangebote finden regelmäßig schulanalog am Vormittag statt. Die Ausstattung der Einrichtungen ist unterschiedlich, aber nur einige haben Lernräume, Werkstätten oder Sportanlagen.
Während der ambulante Kinder- und Jugendnotdienst gesellschaftlich und fachlich überwiegend anerkannt ist, stehen die stationären Einrichtungen auch in der Öffentlichkeit in der Kritik, weil sie oftmals Züge einer Maßnahme geschlossener Unterbringung zeigen. Denn je nach Einzelfall und aktueller Situation ist es möglich, befristet freiheitsentziehende Maßnahmen durchzuführen, wenn es zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung erforderlich ist. Hierfür muss allerdings ein familiengerichtlicher Beschluss nach §1631b BGB vorliegen. Insbesondere im Grenzbereich Jugendhilfe/Psychiatrie erfolgt immer wieder die Einweisung in sogenannte „hochstrukturierte Einrichtungen“, die psychisch besonders belastete Kinder und Jugendliche aufnehmen und in einem mehrphasigen Betreuungsmodell sozial reintegrieren sollen.
Jede Spezialeinrichtung für vulnerable Kinder und Jugendliche bedeutet Isolation und den Verlust von Normalität, kann das Entstehen von Subkulturen nicht verhindern, deren Auswirkungen auf die dort lebenden Heranwachsenden in der Regel prägender sind als das pädagogische Einrichtungskonzept, und schafft soziale Zusammenhänge, in denen sich ausschließlich junge Menschen mit belastendem Verhalten begegnen und sich folglich die Frage stellt, woher dann positive Orientierungen kommen können. Unter dem erheblichen pädagogischen Alltagsdruck können auch menschenunwürdige Erziehungspraktiken entstehen, immer wieder werden von der Zivilgesellschaft und der Presse solche Skandale öffentlich gemacht. Das Aktionsbündnis gegen Geschlossene Unterbringung kämpft schon lange gegen diese „Kinderknäste“. Alternativ werden integrierte, flexible, sozialraumorientierte Arbeitsansätze im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe vorgeschlagen. [AGJ 2015; Häbel 2016; Lenz/Peters 2020; www.geschlossene-unterbringung.de]
Ein wichtiges Handlungsfeld ist die Organisation der Beschulung. Bis in die 1980er Jahre wurde der Unterricht in den Kinder- und Jugendheimen mit eigenen Heimschulen oder in Sonderschulen erteilt, die zumeist Erziehungshilfeschulen hießen. Vielerorts, insbesondere in den Großstädten, wurden manchmal auch Lehrkräfte in die Jugendämter abgeordnet, um in den Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen die pädagogische Aufgabe von Bildung und Erziehung durchzuführen. Ab den 2000er Jahren richtete man dann zunehmend Regionale Beratungsstellen ein, die die Regelschulen in ihrer Arbeit mit diesen Kindern und Jugendlichen unterstützen sollen. Selbst wenn verbindliche Kooperationsbeziehungen zwischen der Schule und der Jugendhilfe geschaffen wurden, blieben bislang die Ergebnisse solcher „inklusiven Settings“ oftmals deutlich hinter den Erwartungen zurück [Schuck/Rauer/Prinz 2018].
AGJ - Arbeitsgemeinschaft für Kinder und Jugendhilfe (AGJ) (2015): Freiheitsentziehende Maßnahmen im aktuellen Diskurs. Konsequenzen für die Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung. Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe. – Häbel, Hannelore (2016): Das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung und seine Bedeutung für die Zulässigkeit körperlichen Zwangs in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Rechtsgutachten. In: Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe (ZKJ), Teil 1 Heft 5/2016, 168-173, Teil 2 Heft 6/2016, 204-211. – Herz, Birgit (2013): Schulische und außerschulische Erziehungshilfe. Bad Heilbrunn: Klinhhardt. – Lenz, Stefan; Peters, Friedhelm (Hrsg.) (2020): Kompendium Integrierte flexible Hilfen. Weinheim/Basel: Juventa. – Schuck, Karl Dieter; Rauer, Wulf; Prinz, Doren (Hrsg.) (2018): EiBiSch – Evaluation inklusiver Bildung in Hamburgs Schulen. Quantitative und qualitative Ergebnisse. Münster: Waxmann. – Trenczek, Thomas (2017): Inobhutnahme - Krisenintervention und Schutzgewährung durch die Jugendhilfe. Stuttgart/München: Richard Boorberg Verlag.