Schifferkinderheime - Schifferschulen

Der Schifferbetrieb ist überwiegend ein Familienunternehmen. Nicht nur die Eheleute, sondern auch die Kinder leben in der Regel an Bord und wechseln sich in der Fahrzeugführung ab. Schifferfamilien reisen zumeist ganzjährig und halten nur kurz zum Be- und Entladen der Schiffe. Man fährt von einem Anlegeplatz zum nächsten und ist bemüht, die Ladung termingerecht zu löschen beziehungsweise aufzunehmen, um Anschlussaufträge zu erhalten. Die Kinder werden frühzeitig in die zu erledigenden Arbeiten auf dem Schiff einbezogen. Erreicht der Nachwuchs aus Binnenschifferfamilien das schulpflichtige Alter, wird er zumeist bei Großeltern oder Verwandten untergebracht und besucht am Ort des festen Wohnsitzes dann die öffentliche Regelschule. Manchmal gehen die Mütter mit an Land, was allerdings für die Schifferfamilien kostspielig ist, denn zumeist sind die Familienbetriebe auf die mitarbeitenden Ehefrauen angewiesen, so dass zusätzliches Personal eingestellt werden muss. Auch die doppelte Haushaltsführung verursacht Zusatzkosten.

Historische Aufnahme des Schifferkinderheims ›Ernst Thälmann‹ an der Elbe: zweigeschossiges weißes Haus mit Freitreppe, Veranda und spielenden Kindern vor dem Eingang (Blick vom Fluss).

Schifferkinderheim „Ernst Thälmann“ in Pillnitz bei Dresden

[Quelle: www.ddr.-binnenschifffahrt.de/schule; Abdruckgenehmigung vom 26.10.2021]

Für Binnenschifferfamilien ist traditionell die Sicherstellung des Schulbesuchs wichtig, die öffentliche Schule wird von den Schifferfamilien nicht gemieden, sondern es wird versucht, diese in die Alltagsorganisation einzubeziehen. [Brandhorst 1987]

Historisch üblich ist deshalb auch die Unterbringung der schulpflichtigen Heranwachsenden in so genannten Schifferkinderheimen, die eigene Schulen haben können oder die als Internate geführt werden, so dass die Kinder dann die nahegelegenen öffentlichen Bildungseinrichtungen besuchen. Solche Heime, die zumeist von Schifferverbänden oder den Kirchen eingerichtet werden, gibt es in Deutschland schon sehr lange. So nahm das 1855 von der Luise-Stephanien-Stiftung gegründete Schifferkinderheim in Mannheim, einem der größten Binnenhäfen Deutschlands, zunächst nur Mädchen aus Schifferfamilien auf und später dann auch Jungen. Die Berliner Evangelische Schifferfürsorge eröffnete 1907 nahe dem Teltowkanal eine solche Einrichtung, 1925 wurde ein Heim in Fürstenberg/Oder von der Berufsgenossenschaft der Binnenschiffer gebaut und ebenfalls von einem kirchlichen Träger betrieben. In den 1950er Jahren wurden in der BRD weitere Internate geschaffen: das Schifferkinderhaus in Minden, die St. Nikolausburg in Duisburg sowie die Schifferkinderheime in Würzburg, Hörstel/Westfalen und Homberg am Niederrhein. [www.scheubner.de/schifferkinderheime]

Auch in der DDR gab es zwei Einrichtungen. Im Unterschied zu Westdeutschland waren die Schifferfamilien ganz überwiegend nicht selbstständig, sondern fuhren im Auftrag des VEB Deutsche Binnenreederei Berlin. Dieser führte das Heim in Fürstenberg/Oder (umbenannt in Eisenhüttenstadt) als Schifferkinderheim „Fiete Schulze“ weiter und richtete 1953 zudem das Schifferkinderheim „Ernst Thälmann“ in Pillnitz bei Dresden ein.

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Die Kinder besuchten die örtlichen Schulen. Im Zuge der Zentralisierung wurde das Heim in Sachsen jedoch bereits 1974 wieder aufgegeben und nach Eisenhüttenstadt verlegt. Dieses Internat wiederum wurde 1995 geschlossen. Mit Einführung der modernen Berufsschifffahrt in der DDR ab Mitte der 1950er Jahre wurde ein Ausbildungsberuf zur Bedienung der modernen Motorgüterschiffe und deren Motorisierung geschaffen. Dafür wurde in Schönebeck-Frohse an der Elbe eine Betriebs-Berufsschule für den Beruf eines Binnenschiffers gegründet (mit Internat), die bis heute besteht, aber noch weitere Ausbildungsberufe anbietet [www.ddr.-binnenschifffahrt.de/schule]

Ein Heimplatz kostet bis zu 3.000 Euro pro Monat. Das ist ein Betrag, den viele Schifferfamilien, zumal wenn sie mehrere schulpflichtige Kinder haben, nicht aufbringen können.

Mehrbild-Postkarte des Schifferkinderheims Hörstel (Westf.): oben links ein Binnenschiff auf dem Kanal, rechts der Speisesaal, unten links ein Schlafraum, unten rechts die Außenansicht des roten Klinkerbaus.

Schifferkinderheim „Am Nassen Dreieck“ in Hörstel in Westfalen
[Quelle: www.binnenschifferforum.de:70…im-am-Nassen-Dreieck; Abdruckgenehmigung am 29.10.2021]

Kultusministerkonferenz vom 30.7.2000 wurde die bereits in den 1950er Jahren getroffene Regelung bekräftigt, dass für Kinder von Binnenschiffern (wie auch für Schausteller und Zirkusangehörige), die in einem Heim untergebracht sind, ein Zuschuss von mindestens 10 DM, jetzt 5,10 Euro pro Tag und Kind gewährt werden soll. Den Antrag stellen die Erziehungsberechtigten gemeinsam mit dem Träger des Heims bei dem zahlungspflichtigen Land, in dem der Unterhaltspflichtige seinen Hauptwohnsitz hat. Von einer Bedürftigkeitsprüfung soll abgesehen werden. Da die Gewährung der Unterstützung im Ermessen der zuständigen Behörden liegt, kommt es jedoch immer wieder zu Rechtsstreitigkeiten. Auch der Rückgang der Belegungszahlen in den Schifferkinderheimen wird unter anderem mit Ablehnung von Anträgen aus Kostenersparnisgründen seitens der Behörden erklärt. [KMK 2000]

Die letzten bestehenden Schifferheime in Deutschland können inzwischen auch von anderen Kindergruppen genutzt werden. So können Schausteller- und Zirkuskinder aufgenommen werden, für die es jedoch auch eigene Internate gibt (→ Schulen für beruflich Reisende). Oftmals haben sich die Schifferheime zu Trägern der Jugendhilfe erweitert und bieten nun ebenso Betreuungsleistungen für Kinder und Jugendliche in Not an. Das Schifferkinderheim in Würzburg ist jetzt ein Wohnheim für Auszubildende in einer überbetrieblichen Ausbildung, um den Jugendlichen den Besuch von Berufsschulen beziehungsweise berufsqualifizierenden Kursen zu ermöglichen. Alternierend werden hier auch junge Menschen untergebracht, die einen ‚seltenen‘ Beruf (zum Beispiel Uhrmacherei, Goldschmiedekunst, Fotografie) erlernen.

Sepiafarbene Postkarte um 1920 – Backstein-Komplex des Schifferkinderheims in Duisburg-Ruhrort mit turmartigem Mittelrisalit und Innenhoffront.

Schifferkinderheim „St. Nikolausburg“ in Duisburg-Ruhrort

[Postkarte; Privatbesitz: Schroeder]

Brandhorst, Hans E. (1987): Die evangelische Schiffergemeinde und das Schifferkinderheim in Minden. In: Bachmann, Jutta (Hrsg.): Schiffahrt, Handel, Häfen: Beiträge zur Geschichte der Schiffahrt auf Weser und Mittellandkanal. Minden: Mindener Hafen-GmbH, 419-422. – Ev. Schifferkinderheim Mannheim (2013): Volle Fahrt voraus. 100 Jahre Schifferkinderheim. 1913-2013. Festschrift. www.schifferkinderheim.de – Herold, Heinz; Osthues, Annemarie (1983): 25 Jahre Schifferkinderheim Basel: Chronik. Basel Stiftung Schifferkinderheim. – KMK - Kultusministerkonferenz (2000): Empfehlung für Zuschüsse für die in Heimen untergebrachten Kinder von Binnenschiffern, Zirkusangehörigen und Schaustellern. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 30. Juli 2000. Bonn: KMK.