Schule und HIV/Aids
Als Mitte der 1980er Jahre die ersten infizierten Kinder und Jugendlichen bekannt wurden, kam es – weltweit und auch in Deutschland – zu Schulausschlüssen. In etlichen Ländern sah man sich deshalb genötigt, Verordnungen zu erlassen, um klar zu stellen, dass diese Schülerinnen und Schüler weder vom Schulbesuch ausgegrenzt noch in Sondereinrichtungen verbracht werden dürfen.[1] Auch in der Bundesrepublik ist spätestens mit dem Inkrafttreten des Infektionsschutzgesetzes im Jahr 2000 der Unterrichts- oder gar ein Schulausschluss eines HIV infizierten oder aidserkrankten Kindes oder Jugendlichen nicht erlaubt, und das unbestimmte Rechtsverhältnis von Schule und HIV/Aids ist inzwischen in den verschiedenen Bundesländern gesetzlich relativ präzise geklärt worden.
[1] Vgl. Republic of South Africa, Department of Education: National Educational Policy on HIV/AIDS for Learners and Educators in Public Schools and Students and Educators in further Education and Training in Institutions. 10 August 1999, Volume 410, Number 20372. – Papua New Guinea, Department of Education: HIV/Aids Policy for the National Education System of Papua New Guinea, 2005 – Landesschulrat für Salzburg, Sicherheitsorder B 4 2003, HIV-Infektion (AIDS), Vorgehen an Schulen: Richtlinien. Salzburg, 3.3.2003 (AD-7353/1-2003). – Richtlinie für die AIDS-Prävention an den Bayerischen Schulen. GemBek vom 15. März 1989 (KWMBI I S. 71), geändert durch KMBek vom 30. August 1989 (KWMBI S. 265).
Das Infektionsschutzgesetz [IfSG 2000] nennt spezifische Vorschriften für Schulen, Ausbildungsstätten, Heime und sonstige Gemeinschaftseinrichtungen in denen überwiegend Säuglinge, Kinder oder Jugendliche betreut werden (Kinderkrippen, Kindergärten, Kindertagesstätten, Kinderhorte, Ferienlager). In dem Gesetzestext werden eine Reihe von Infektionskrankheiten aufgelistet, die zu einem Unterrichtsausschluss oder, bei einem epidemischen Auftreten, auch zur zeitweisen Schließung einer Schule führen können (Cholera, Diphtherie, Meningitis, Keuchhusten, Krätze, Lungentuberkulose, Masern, Mumps, Paratyphus, Pest, Poliomyelitis, Scharlach, Typhus, Virushepatitis A oder E und Windpocken). Die betroffene Person hat in solchen Fällen die Leitung der Einrichtung unverzüglich über die Erkrankung zu informieren, welche dann das zuständige Gesundheitsamt mit den krankheits- und personenbezogenen Angaben benachrichtigt. HIV/Aids ist nicht auf der Liste, weil es medizinisch eine zwar ansteckende, aber keine infektiöse Krankheit ist. Folglich kann ein Unterrichtsausschluss nicht aus dem Infektionsschutzgesetz abgeleitet werden.
Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder hat bereits 1985 darauf hingewiesen, „dass von Schülern, die den AIDS-Virus im Blut haben, keine besondere Ansteckungsgefahr ausgeht und daher keine Veranlassung besteht, sie vom Unterricht auszuschließen.“ Dieser Beschluss gilt unvermindert. [KMK 1985]
In Deutschland besteht eine relativ gut ausgebaute Hilfsstruktur für HIV-infizierte und an Aids erkrankte Kinder und Jugendliche und zumindest wird versucht, in einer entdramatisierenden Weise mit der Erkrankung umzugehen. Für die schulische Betreuung sind drei Konstellationen zu unterscheiden: (1) Der Zeitraum während einer HIV-Infektion bzw. die Latenzphase, (2) eine akute opportunistische Erkrankung, die einen Klinikaufenthalt oder zumindest ein Verbleiben zuhause erforderlich macht, sowie (3) die manifeste Aids-Erkrankung.
Kinder und Jugendliche mit einer HIV-Infektion werden medikamentös behandelt und besuchen weiterhin die Schule. Ihr Gesundheitszustand kann viele Jahre relativ stabil sein, sie können uneingeschränkt am Unterricht teilnehmen. Insgesamt ist die Krankheit sehr gut behandelbar. Für die betroffenen Schülerinnen und Schüler kann die Medikamenteneinnahme anstrengend sein, immer wieder treten Unverträglichkeiten und Nebenwirkungen auf. Zudem müssen regelmäßige Blutuntersuchungen durchgeführt werden, manche erhalten ambulant im Krankenhaus Infusionen (Immunglobine). Für die Schulen ergibt sich in diesem Stadium kein Handlungsbedarf, denn eine Ansteckung unter Schülern ist empirisch in noch keinem einzigen Fall nachgewiesen. Deshalb sind die üblichen Hygienemaßnahmen, beispielsweise bei einer Wundversorgung, völlig ausreichend.
Die Zahl der in den Kliniken betreuten Kinder und Jugendlichen ist in den letzten Jahren spürbar zurückgegangen, da die medizinische Versorgung verbessert wurde und ein stationärer Klinikaufenthalt oftmals nicht erforderlich ist. Aber es müssen immer wieder Kinder und Jugendliche stationär behandelt werden, nicht wegen der HIV-Infektion, sondern wegen Nebeninfektionen oder Folgeerkrankungen. Die schulische Betreuung während des Klinikaufenthaltes ist dieselbe wie bei anderen kranken Kindern (→ Schulen für Kranke): Müssen sie im Bett verbleiben, dann wird Bettenunterricht erteilt, sind sie mobil, dann werden sie in den üblicherweise vorhandenen Schulzimmern unterrichtet. In seltenen Fällen werden sie zuhause beschult (→ Hausunterricht). Schwerpunkt der pädagogischen Arbeit ist die Vorbereitung der Reintegration in die Herkunftsschule. Denn dort besteht oftmals Unsicherheit im Umgang mit den Kindern, es ist mit irrationalen Ängsten bei Mitschülern und vor allem bei deren Eltern sowie bei den Lehrkräften zu rechnen. Immer wieder gibt es Schulen, die eine Wiederaufnahme eines solchen Schülers ablehnen. In Konfliktfällen haben die Schulbehörden für die entsprechende Durchsetzung des Bildungsrechts zu sorgen. Eine Ausschulung ist nicht statthaft.
Bei einer Aids-Erkrankung, also der Spätphase der HIV-Infektion, ist eine Auseinandersetzung in der Schule über Infektionsmöglichkeiten, Krankheitsverlauf und die Lebenssituation der betroffenen Familien und mit den Themen Sexualität, Krankheit, Ausgrenzung und Tod erforderlich. In dieser Phase treten vermehrt opportunistische Erkrankungen auf (Lungenentzündung, bestimmte Krebserkrankungen), an denen die Betroffenen zumeist sterben. Trotz verbesserter medizinischer Versorgung ist die Lebenserwartung bei kleinen Kindern eher gering, u.a. weil für sie im Unterschied zu Erwachsenen nur ein begrenztes Spektrum an Substraten für die Behandlung verfügbar ist. Im Jugendalter dagegen besteht inzwischen eine recht lange Lebenserwartung. Bei der manifesten Aids-Erkrankung muss individuell entschieden werden, wie lange das Kind oder der Jugendliche am Unterricht teilnimmt. Ansonsten wird Hausunterricht oder, bei einem Klinikaufenthalt, der Krankenhausunterricht erteilt. Manche Betroffene entschließen sich in der Spätphase der Erkrankung für die Unterbringung in einem (→) Kinder- und Jugendhospiz, in denen ebenfalls Bildungsangebote unterbreitet werden können.
AG Kinder- und Jugendschutz HH e.V. (2007a), HIV-betroffene Kinder. Informationen für MitarbeiterInnen in Kindergärten, Schulen und sozialen Einrichtungen. Hamburg. – AG Kinder- und Jugendschutz HH e.V. (2007b): Hepatitis und Kinder. Informationen für Eltern und MitarbeiterInnen in sozialen Einrichtungen. Hamburg. – Böckmann, Anja (2001): Die rechtliche Problematik von HIV und Aids an öffentlichen Schulen. Eine Betrachtung zu den Bereichen Gefahrenabwehr, Datenschutz und Dienstrecht. Frankfurt/Main: Peter Lang. – Deutsche AIDS-Hilfe (2011): PaKoMi. HIV-Prävention für & mit Migrant/inn/en. Berlin. – IfSG (2000): Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045). – KMK (1985): Entschließung der Ständigen Konferenz der Kultusminister und Senatoren der Länder „Schule und AIDS“ im Oktober 1985 in Köln. Bonn: KMK.