Schulen für beruflich Reisende

Die Kultusministerkonferenz (KMK) bezeichnet mit dem Begriff „Kinder beruflich Reisender“ minderjährige Schulpflichtige, die in Zirkus-, Schausteller- und Schifferfamilien aufwachsen und ganzjährig überwiegend unterwegs sind. Die Beschulung in der Binnenschiffahrt wird traditionell mit Internaten organisiert, die man zumeist als (→) Schifferkinderheime bezeichnet. Artisten- und Schaustellerschulen sind (→) Berufsschulen für gewerblich Reisende, in denen Jugendliche eine berufliche Ausbildung zum Schausteller absolvieren, und – vergleichbar mit Sportschulen oder Ballettschulen – einen Schulabschluss erwerben können. Zumeist in der Rechtsform staatlich anerkannter Ersatzschulen wurden außerdem Fahrende bzw. Mobile Schulen geschaffen, in denen auf die spezifischen Bedürfnisse beruflich Reisender abgestimmte allgemeinbildende Angebote für Zirkuskinder unterbreitet werden. Die Beschulung von „Travellers“ ist auch eine europäische Herausforderung. [Ecotec 2008; www.ente.education]

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Größere Zirkusunternehmen haben eigene Mitreisende Schulen, das sind Wohnwagen, in denen die mitreisende Lehrkraft die zum Zirkus gehörenden schulpflichtigen Kinder unterrichtet. Das Klassenzimmer ist in dem mobilen Schulwagen untergebracht, die Lehrkraft wird zumeist vom Zirkus selbst bezahlt. Während der Winterpause besuchen die Zirkuskinder die Schule am Heimatort und werden manchmal bei der Erledigung der Hausaufgaben oder beim Abbau von Lernrückständen zusätzlich nachmittags durch die Zirkuslehrkraft unterrichtet. In der Regel sind diese letztlich privat geführten Schulen als Ersatzschulen staatlich anerkannt und unterrichten dann nach den Richtlinien des Bundeslandes, dem sie zugehören. [www.circus-krone.com]

Eine andere Form sind die Fahrenden Schulen. In den Niederlanden gibt es „Rijdende Scholen“ bereits seit den 1950er Jahren. Die erste wurde von Lehrkräften der Schifferschule Groningen zusammen mit Schaustellern und einem Schaustellerseelsorger gegründet und ab 1954 in einem Verein, der „Stichting Rijdende School“, institutionalisiert. Lehrkräfte fahren mit einem Schulwohnwagen zu den Standplätzen der Familienzirkusse oder zu den Jahrmärkten, um dort den Unterricht abzuhalten. Sie reisen aber nicht den Zirkussen nach, sondern befahren eine größere Region und bieten dem jeweils in diesem Gebiet gastierenden Zirkus Unterricht an, kehren aber nach Unterrichtsschluss wieder nach Hause zurück. Manchmal bleibt der Schulwagen so lange stehen, wie die Familien gastieren, oder er wird täglich neu aufgestellt. Sind die Zirkusse im Winterlager, bieten die Fahrenden Schulen vor allem Hausaufgabenhilfe und Nachhilfeunterricht am Nachmittag an. Gegenwärtig unterhält die holländische Stiftung über zwanzig Fahrende Schulen, beschäftigt 30 Lehrkräfte und versorgt rund 600 Kinder. [www.rijdendeschool.nl]

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An das niederländische Modell angelehnt wurde 1994 die „Schule für Zirkuskinder in Nordrhein-Westfalen“ als staatlich genehmigte private Ersatzschule der Evangelischen Kirche im Rheinland mit Sitz in Hilden gegründet. Diese „Circusschule“ bietet die Primar- und die erste Sekundarstufe an, im Fernunterricht führt sie auch zum Abitur. Es unterrichten dreißig Lehrkräfte und es gibt ebenso viele Schulmobile. Rund 130 Kinder aus 23 Zirkussen werden in dem Bundesland betreut. Auch in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gibt es Fahrende Schulen, sowie seit 2010 unter der Bezeichnung „Schule für Kinder beruflich Reisender“ in Hessen, wo mit zehn Lernmobilen ebenso viele Lehrkräfte die Schülerinnen und Schüler in der Region aufsuchen sowie den Unterricht im Winterlager organisieren. Alle Kultusministerien haben Beauftragte für die Schulprobleme beruflich Reisender und zumeist auch Verantwortliche der Schulverwaltungen und in den Schulämtern benannt und kooperieren in länderübergreifenden Reisetätigkeiten mit Unterstützung einzelner Landesinstitute, um während der Reisemonate eine Kontinuität zu gewährleisten [www.kmk.org; www.schulefuercircuskinder-nrw.de]

Die Traveller in Irland praktizieren traditionell ein Leben ohne festen Wohnsitz. Viele führen ihren Ursprung auf die große irische Hungersnot in den 1840er Jahren zurück, die sie zum Nomadendasein gezwungen habe. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine Auswanderungswelle nach England, in die USA, nach Kanada und Australien. Noch bis in die 1970er Jahre lebten viele Traveller in Zelten oder von Pferden gezogenen Planwagen. Heute besitzen die meisten von ihnen einen Caravan, mit dem sie durch die Lande ziehen oder den sie auf einem von den Gemeinden festgelegten Areal abstellen. Eine kleine Anzahl Traveller lebt in „Mobile Homes“ oder gar Festbauten, in der westirischen Kleinstadt Rathkeale in der Nähe von Limerick stellen Traveller die Mehrheit der Bevölkerung, dort gibt es auch eine spezielle Schule für diese Gruppe. Die meisten Traveller sind selbstständig. Traditionell haben sie als Kesselflicker gearbeitet, gingen hausieren, sammelten Altmetall, machten Landarbeit, handelten mit Pferden und auf Märkten und machten Musik.

Heute betätigen sie sich häufig im Haus- und Straßenbau und in Autowerkstätten. Es gibt auch Traveller mit einem höheren Bildungsabschluss, die als Lehrer, Sozialarbeiterinnen oder in der Armee beschäftigt sind. Gleichwohl ist die Bildungsteilhabe eher gering und viele junge, insbesondere männliche Traveller gehen frühzeitig, teilweise bereits mit 12 Jahren, von der Schule ab. Auch in der beruflichen Bildung partizipieren sie selten. [Hourigan/Campbell 2010; Gag 2015]

Eine sehr spezielle Mischung aus Zirkusunternehmen und Artistenschule, Kinderheim und Waisenhaus, reformpädagogisch orientierter Erziehungsstätte und berufsbildender Einrichtung ist die im nordspanischen Bemposta (Benposta) gelegene Ciudad de los Muchachos, die es in ähnlicher Weise auch in Kolumbien gibt. In dieser1956 von einem katholischen Priester gegründeten sozialpädagogischen Einrichtung werden sehr benachteiligte Kinder und Jugendliche in einer eigenen Schule unterrichtet sowie in Werkstätten in verschiedenen Ausbildungsberufen qualifiziert. In der zur Einrichtung gehörenden Zirkusschule können sich alle Kinder, die in Bemposta leben, artistische Fähigkeiten aneignen. Sie fungiert aber auch als eine internationale Artistenschule, in der von renommierten Artistinnen und Artisten junge Menschen aus vielen Ländern ausgebildet werden. Die etwa achtzig Jugendlichen, die zum Zirkus gehören, gehen regelmäßig auf Tournee; mit den Einnahmen wird zu einem erheblichen Teil die Einrichtung finanziert. Das pädagogische Konzept dieser ‚Kinderrepublik‘ ist stark auf einen selbstverwaltenden Ansatz ausgerichtet, insbesondere wird mit einem Kinderparlament gearbeitet. [Möbius 1981; Liegle 1989; Bohmann/Posada 2006]

Bohmann, Hans; Posada, José (2006): Benposta, 50 Jahre „Nacion de Muchachos“ - Die Geschichte einer außergewöhnlichen Einrichtung. Bochum: Ev. Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. – Claußen, Bernhard (Hrsg.) (1989): „Bestaunt, aber allein gelassen.“ Der Schulalltag von Circus- und Schaustellerkindern: Kritische Bestandsaufnahme und Perspektivenentwicklung. Frankfurt/Main: Haag + Herchen. – Ecotec (2008): Study on the schooling of children of occupational travellers in the European Union. A Final Report to the Directorate General for Education and Culture of the European Commission. Birmingham: Ecotec Research and Consulting. – Gag, Maren (2015): The Travellers in Ireland – Meeting with a particularly vulnerable group. In: Schroeder, Joachim (Editor): Breaking Down Barriers from Education to Employment. Sofia: BCES, 229-237. – Heidermann, Werner (1988): „Meistens sitzen wir ganz hinten“. Zur schulischen Situation von Circuskindern in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/Main: Haag + Herchen. – Hourigan, Niamh; Campbell, Maria (2010): The TEACH Report. Traveller Education and Adults: Crisis, Challenge and Change. Athlone: National Association of Travellor’s Centers. – Käter, Franz-Josef (2004): Schulische Betreuung von Kindern beruflich Reisender. Hamburg: Dr. Kovac. – Liègeois, Jean-Pierre (1999): Die schulische Betreuung ethnischer Minderheiten: Das Beispiel der Sinti und Roma. Berlin: Edition Parabolis. – Liegle, Ludwig (1989): Kinderrepubliken. Dokumentation und Deutung einer „modernen“ Erziehungsform. In: Zeitschrift für Pädagogik 35, 3, 399-416. – Möbius, Eberhard (1981): Die Kinderrepublik. Bemposta und die Muchachos. Reinbek: Rowohlt. – Viehoff, Phili (1989): Schul- und Ausbildungsprobleme für Schaustellerkinder in europäischer Sicht. In: Claußen, Bernhard (Hrsg.): „Bestaunt, aber allein gelassen.“ Der Schulalltag von Circus- und Schaustellerkindern: Kritische Bestandsaufnahme und Perspektivenentwicklung. Frankfurt/Main: Haag + Herchen, 41-46.