Schulen für junge Menschen mit Suchtproblemen
Die Suchterkrankung von Schülerinnen und Schülern hat man historisch als Ursache für delinquentes Verhalten gesehen, und deshalb wurden die betroffenen Kinder und Jugendlichen in kriminalpädagogische Einrichtungen wie dem Zuchthaus oder Gefängnis eingesperrt. Mit der Herausbildung der wissenschaftlichen Psychologie und Psychopathologie dagegen wurde Sucht als psychische Störung aufgefasst, die in kinderpsychiatrischen Abteilungen von Nervenkliniken und den nach und nach entstehenden Heilerziehungsanstalten behandelt werden sollten. Der Nervenarzt Heinrich Hofmann, Autor des Kinderbuches „Struwwelpeter“, gründete 1864 in Frankfurt/Main die erste kinderpsychiatrische Einrichtung, die eine weltweite modellhafte Ausstrahlung hatte. Im Nationalsozialismus wurden Suchterkrankungen – vor allem Alkoholismus – als „anlagebedingt“ diskriminiert, insbesondere Jugendliche wurden aufgrund dieser „Minderwertigkeit“ und „Abartigkeit“ in (→) Konzentrationslager verbracht. Herrschten in der Nachkriegszeit zunächst medizinische Ansätze vor, in denen zur Bearbeitung von Suchtproblemen auf den Einsatz von Pharmaka gesetzt wurde, so dominieren in der gegenwärtigen Kinder- und Jugendpsychiatrie tiefenpsychologische und heilpädagogische Ansätze, die in diagnostische und pädagogisch-therapeutische Maßnahmen münden. [Myschker 1999; Wieland 2021]
Die aktuellen Bildungseinrichtungen für Drogenabhängige lassen sich in ambulante und in stationäre Schulen unterteilen, die sich entsprechend an Jugendliche und junge Erwachsene nach oder während einer Suchttherapie richten. Es können sowohl allgemeinbildende als auch berufsbezogene Lern- und Qualifizierungsangebote sein.
Das 1971 gegründete Bildungszentrum Hermann Hesse in Frankfurt/Main, die nur wenig später 1975 eingerichtete STEP-Therapieschule in Hannover sowie die 1988 geschaffene Tannenhof-Schule in Berlin-Neukölln sind bundesweit die einzigen ambulanten Schulen für abhängige, entgiftete und substituierte Drogenkonsumenten. Sie bieten jungen Menschen ab vierzehn Jahren, die in den Städten oder der näheren Umgebung wohnen, die Möglichkeit, ihren wegen Suchtproblemen versäumten Schulabschluss nachzuholen. Die Einrichtungen werden als Ganztagsangebote geführt. Die Aufenthaltsdauer richtet sich nach dem angestrebten Schulabschluss und liegt zwischen einem Jahr (Hauptschulabschluss) und dreieinhalb Jahren (Abitur). In Frankfurt/Main stehen 150 Plätze zur Verfügung, in Hannover sind es drei Lerngruppen mit insgesamt 50 Plätzen, in Berlin werden bis zu 75 Jugendliche aufgenommen. Es werden alle Schulabschlüsse angeboten, die Zeugnisse sind so gestaltet, dass ein Rückschluss auf die Suchtproblematik ausgeschlossen ist.
Das hessische Bildungszentrum hat den Status einer staatlich anerkannten privaten Sonderschule, die niedersächsische Therapieschule ist eine Jugendhilfeeinrichtung und die brandenburgische Tannenhofschule ist eine Außenstelle einer staatlichen Förderschule. Aufnahmevoraussetzung ist der Wille, künftig suchtmittelfrei bzw. bei Substitution ohne Beigebrauch zu leben. Der Unterricht findet in kleinen Lerngruppen statt. Neben der schulischen Qualifizierung wird an der Lösung von der Suchtmittelbindung und an der psychosozialen Rehabilitation gearbeitet. Die Schulsozialarbeit begleitet und berät die Jugendlichen und jungen Erwachsenen bei der Aufnahme, bei Problemen während des Schulbesuchs und bei der Planung der Zeit danach. Ziel ist es, durch spezifische Hilfestellungen die Suchtmittelabstinenz zu stabilisieren und die Selbstkontrolle bei psychischen Problemen zu erhöhen. Den drei Einrichtungen sind teilstationäre betreute Wohnplätze angegliedert, die Schülerinnen und Schüler wohnen aber überwiegend in selbst angemieteten Unterkünften. [FDR 2019]
Stationäre schulische Angebote werden zumeist in den heilpädagogischen (→) Schulen für Kranke vorgehalten, die wiederum überwiegend Bestandteil therapeutischer Einrichtungen oder Rehabilitationskliniken sind. Ziel ist es, während der Therapie einen anerkannten Schulabschluss zu erlangen. Unterrichtet werden die stationär aufgenommenen und überwiegend in Wohngruppen untergebrachten Jugendlichen, aber bei Bedarf auch solche, die nach ihrer Entlassung noch der besonderen schulischen Betreuung durch die Schule für Kranke bedürfen. Die Jugendlichen erhalten zwischen zehn und fünfzehn Stunden Unterricht pro Woche, der in der Regel in Gruppen stattfindet. Einzelunterricht wird dann erteilt, wenn auf Grund des Krankheitsbildes eine andere Form der Förderung nicht geeignet erscheint oder wegen einer bestimmten diagnostischen Fragestellung eine gezielte Einzelförderung notwendig ist. Ziele des Unterrichts können die Förderung des Anschlusses an die Herkunftsschule sein, die Vorbereitung und Einleitung des Wechsels von Schulen oder Bildungsgängen, die Wiedereingliederung in den Schulbetrieb nach längerer schulischer Abstinenz oder Prüfungsvorbereitung. Um den Schulabschluss unabhängig von der Beendigung der Therapie bis zur Prüfung zu sichern, bieten manche Einrichtungen externe Wohngruppen an, so dass die Schule weiterhin besucht werden kann. [FDR 2019]
Die berufliche Vorbereitung und Qualifizierung ist überwiegend ambulant organisiert und wird zumeist in (→) Lernwerkstätten angeboten. Im Verlauf einer Suchtbehandlung sind Fragen der beruflichen Eingliederung von zentraler Bedeutung, eine gelingende Integration in den Arbeitsmarkt dient der Absicherung von Behandlungsfortschritten. Die berufliche Bildung kann während der stationären Entwöhnungsphase in einer Fachklinik begonnen, während der ambulanten Weiterbehandlung nach Abschluss einer stationären Behandlung fortgeführt oder während einer Methadonsubstitution mit der psychosozialen Begleitung verknüpft werden. In spezialisierten Werkstattschulen werden mit einer intensiven sozialpädagogischen Betreuung die suchtgefährdeten oder suchtkranken junge Menschen aufgenommen, die keinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz gefunden haben. Praktische Erfahrungsfelder (zumeist in den Werkbereichen Holz und Metall), Bewerbungstraining, PC- und Internet-Kurse, allgemeinbildender Unterricht, Betriebspraktika und persönliche Unterstützung auf dem Weg in Ausbildung und Beruf gehören zum üblichen Curriculum. [www.drogenhilfe-koeln.de]
Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V. (2019): Schulprojekte für suchtgefährdete und suchtkranke junge Menschen. Berlin: fdr. – Myschker, Norbert (1999): Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Erscheinungsformen, Ursachen, Hilfreiche Maßnahmen. Stuttgart: Kohlhammer. – Wieland. Norbert (2021): Drogenkonsum: ein Bildungsanlass. In: Deinet, Ulrich; Sturzenhecker, Benedikt; von Schwanenflügel, Larissa; Schwerthelm, Moritz (Hrsg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. Springer VS, Wiesbaden, 1431-1435.