Schulen für LGBTQIA*
Schulen erziehen in einem heteronormativen Feld. Deshalb stellt sich die Frage, ob spezielle Bildungsangebote oder Schulen für junge LGBTQIA* (Lesbian, Gay, Bisexuell, Transgender, those Questioning their sexuality or gender, Intersexuals, Agender and *(other) sexual identities) notwendig sind. [Hofsäss 1995; Hartmann et al. 2017)
In Deutschland sind bislang keine eigenen Schulen für Jugendliche mit einer homosexuellen oder transidenten Orientierung eingerichtet worden. Lediglich im Kontext der Jugendsozialarbeit mit jugendlichen Prostituierten finden sich zielgruppenspezifische niedrigschwellige Bildungsangebote in (→) Bahnhofsschulen, in denen zumeist die sexuelle Orientierung konzeptionell bedacht wird. Auch in der Jugendhilfe existieren im Bereich des sozialpädagogisch betreuten Wohnens einige wenige Projekte, die sich an bisexuell oder gleichgeschlechtlich orientierende Jugendliche richten. Doch auch in der Heimerziehung ist Homosexualität tabuisiert, unabhängig davon, ob es sich um kirchliche, freie oder öffentliche Träger handelt. Insgesamt gilt für die Jugendsozialarbeit, dass die geschlechtliche Orientierung ein irrelevantes und irritierendes Kriterium ist. Demgegenüber sind in der offenen Jugendarbeit in einigen deutschen Großstädten (Berlin, Köln, München, Hamburg) schwul-lesbische Jugendzentren geschaffen worden, in denen junge Leute entsprechende Selbsthilfegruppen und Beratungsangebote finden und an Begegnungsprojekten (z.B. Ferienfreizeiten) teilnehmen können. [Hofsäss 1999; DJI 2018; www.lambda-online.de; www.queerformat.de]
Harvey Milk School (im sechsten Stock), New York, 1986 gegründet [Foto: Schroeder, 2013]
Hingegen gibt es in den USA einzelne Schulprojekte für junge Queer. Die „Harvey Milk School“ in New York gilt als die älteste Einrichtung dieser Art, eine vergleichbare Schule ist in Milwaukee, Wisconsin (Alliance High School). Die Schule in New York wurde 1986 für Jugendliche gegründet, die während ihres Coming out aus der Bahn geworfen werden und die Chance erhalten, ihren High-School-Abschluss zu beenden. Zunächst als Träger, nun als Schirmherrschaft der Schule fungiert das Hetrick-Martin Institute, die älteste us-amerikanische Organisation, die sich für schwul-lesbische Jugendliche einsetzt. Benannt ist die Schule nach dem Menschenrechtsaktivisten Harvey Milk, dem ersten offen schwul lebenden Bürgermeister der USA, der 1978 in San Francisco ermordet wurde. In die Schule werden queere Jugendliche aufgenommen, die auf der Straße gelandet sind, weil Mutter und Vater die Homosexualität ihres Kindes nicht akzeptieren konnten. Andere verlassen die Familie, weil sie den Druck zuhause nicht mehr aushalten. Nicht wenige gehen von der Regelschule ab, weil sie die Angst vor homophoben Lehrern und gewalttätigen Mitschülern nicht mehr ertragen können. Bis 2003 war die Harvey-Milk-School recht klein, jährlich wurden nur um die dreißig Jugendliche im Alter von vierzehn bis einundzwanzig Jahren aufgenommen. Gewalt und Intoleranz haben die Jugendlichen von den „normalen Schulen“ vertrieben. Der Bildungsgang ist in einer Mischung aus Klassenunterricht und Lernen nach individuell gestalteten Lehrplänen ausgelegt. Die jungen Queer leben in einer schulischen Atmosphäre, die die Entfaltung ihrer Identität begünstigt – ganz im Gegensatz zu der Zeit davor. Sie erleben Erwachsene, die offen lesbisch oder schwul auftreten und sie als junge Lesben und Schwule respektieren. Untereinander erleben sie diese Offenheit ebenfalls. Die Erfahrungen, die sie dabei machen, diskutieren sie unverstellt und kritisch im Unterricht.
Die Schule ist seit ihrer Gründung umstritten. Vor allem von christlich fundamentalistischen Gruppen wird ihr die Erziehung zu einer unmoralischen Lebensweise vorgeworfen („Gott hasst die Schwulen“), von Menschenrechtsaktivisten wird dagegen gefordert, nicht die Opfer, sondern die Täter von Gewalt aus dem Schulsystem auszusondern. Als 2003 die Schule von einer privaten in eine öffentliche und somit staatlich anerkannte vierjährige High School der Stadt New York umgewandelt und deutlich vergrößert wurde, intensivierte sich die Kontroverse und spitzte sich auf die Frage zu, ob hier einer sozialen Gruppe im Bildungsbereich Sonderrechte eingeräumt und somit heterosexuelle Jugendliche benachteiligt werden. [Bethard 2004; Brittenham 2010; Bronski 2003; Colapinto 2005; Hedlund 2004; Morales 2008; www.hmhsnyc.org; www.mps.milwaukee.k12.wi.us]
Ein anderes Konzept verfolgt die GLBTQ Online High School in Maplewood, Minnesota, die 2010 ihre Arbeit aufgenommen hat. Sie richtet sich mit ihren Angeboten vor allem an Jugendliche in ländlichen Regionen, die keinen oder nur einen erschwerten Zugang zu geschützten homosexuellen Unterstützungsstrukturen haben. Mit einem Curriculum, das explizit „gay friendly“ ist, soll die Akzeptanz des Programms erhöht, das Coming out der Jugendlichen unterstützt und zu einem wesentlichen Schwerpunkt der Bildungsarbeit werden. Wichtig ist auch, die Eltern und Familien der Jugendlichen einzubeziehen, wenn diese Probleme mit oder Fragen zum Coming out ihres Sohnes oder ihrer Tochter haben. In geschützten Chatrooms der Lernplattform können sich die Eltern untereinander sowie mit den Jugendlichen oder den Lehrkräften austauschen. Die Online School bietet an, mit denjenigen Schulen, die die Jugendlichen an ihrem Wohnort besuchen, Kooperationsbeziehungen zu schließen, um die Auseinandersetzung mit der LGBTQIA* Thematik an den Normalschulen zu unterstützen und die Jugendlichen auf diese Weise vor einem Ausschluss zu schützen. [www.glbtqonlinehighschool.com]
Bislang weltweit einmalig ist die Rechtsentwicklung in Argentinien, weil dort ein umfassender gesetzlicher Rahmen für die Reintegration transidenter Jugendlicher in das öffentliche Schulsystem geschaffen wurde. Die große Mehrheit dieser Jugendlichen bricht die Schule ab oder wird, wie auch transidente Lehrkräfte, aus den Bildungsinstitutionen ausgeschlossen. Das 2007 verabschiedete „Ley de Identidad de Género“ untersagt in Argentinien erstmals explizit einen solchen Ausschluss und verpflichtet alle öffentlichen und privaten Schulen, transidente Jugendliche wieder aufzunehmen. Zumindest im Bundesstaat Buenos Aires wird seit 2008 diese Reintegration mit entsprechenden Fortbildungsangeboten für die Lehrkräfte und einer finanziellen Unterstützung der Jugendlichen, beispielsweise in Form von Stipendien, in Kooperation mit dem regionalen Erziehungsministerium begleitet. Auch für transidente Lehrkräfte wird der Zugang zur Unterrichtstätigkeit erleichtert, von Kündigungen Betroffenen wird Rechtshilfe angeboten. In Buenos Aires wurde in einem besetzten alten Fabrikgebäude 2012 die Schule „Mocha Celis“ eröffnet, die transidenten Personen ermöglicht, ihre Schulausbildung abzuschließen. Aufgrund von Ausgrenzung, Gewalterfahrungen und Armut ist die Zahl der Schulabbrüche bei dieser Gruppe in Argentinien sehr hoch. Die Schule erhält staatliche Zuschüsse und wird von einem cis Mann geleitet, weil keine transidenten Personen mit den notwendigen akademischen Abschlüssen gefunden werden konnten. Alle Teilnehmende haben Anspruch auf ein städtisches Stipendium für Geringverdienende. Da die meisten Schüler*innen abends und nachts arbeiten müssen, ist der Unterricht nachmittags. Der Name der Schule erinnert an eine Travestiekünstlerin, die 1996 von einem Polizisten ermordet wurde. „Mocha Celis“ ist weltweit die erste Schule, die die Lebensrealität von trans Personen und Travestis explizit in den Blick nimmt. Inzwischen gibt es weitere Schulen im argentinischen Tucumán und in Santiago de Chile sowie Vorbereitungskurse für die Universität für trans Personen und Travestis in Belo Horizonte in Brasilien [www.hcdn.gov.ar; Wasenmüller 2020]
Bethard, Rebecca (2004): New York’s Harvey Milk School: a viable alternative. Journal of Law and Education, July, 2004. – Brittenham, Kristina (2010): Equal protection theory and the Harvey Milk School: Why anti-subordination alone is not enough. www.bc.edu. – Bronski, Martin (2003): Rethinking the Harvey Milk School. In: The Boston Phoenix, August 8 to 14, 2003, www.portlandphoenix.com – Colapinto, John (2005): The Harvey Milk School has no right to exist. New York Magazine, May 21, 2005. – DJI (2018) - Deutsches Jugendinstitut: Jung und queer: Über die Lebenssituation von Jugendlichen, die lesbisch, schwul, bisexuell, trans* oder queer sind. München: DJI. – Hartmann, Jutta; Messerschmidt, Astrid; Thon, Christine (Hrsg.) (2017): Queertheoretische Perspektiven auf Bildung – Pädagogische Kritik der Heteronormativität. Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft (Band 13), Leverkusen: Verlag Barbara Budrich. – Hedlund, Randy (2004): Segregation by any other name: Harvey Milk High School. Journal of Law and Education, July, 2004. – Hofsäss, Thomas (1995): Homosexualität und Erziehung. Pädagogische Betrachtung eines Spannungsfeldes in Familie, Schule und Gesellschaft. Berlin: VBW. – Hofsäss, Thomas (Hrsg.) (1999): Jugendhilfe und gleichgeschlechtliche Orientierung. Berlin: VBW. – Morales, Jennifer (2008): An LGBT highschool is not a ghetto. www.365gay.com. – Wasenmüller, Julia (2020): Im Klassenzimmer zu Hause. Reportage aus der „Mocha Celis“, einer Schule von und für Trans Personen und Travestis. In: Lateinamerika Nachrichten Nr. 548, 24-27.