Untergrundschulen

Ab 1923 hatten die italienischen Faschisten verfügt, dass nur noch Italienisch als ausschließliche Unterrichtssprache in den Schulen gelten sollte. Das betraf die slowenischsprachige Minderheit in Friaul, die französisch sprechende Bevölkerung in Aosta und die deutsche Mehrheit in Südtirol. Dort wurden die Lehrkräfte entlassen und durch italienische ersetzt. Daraufhin wurde ein Netz von so genannten Notschulen aufgebaut, in dem viele entlassene Lehrkräfte arbeiteten. Diese geheimen Sprachklassen wurden auch als Katakombenschulen bezeichnet: Der katholische Priester Michael Gamper, eine der treibenden Kräfte des Aufbaus der Notschulen, hatte daran erinnert, dass sich die frühen Christen vor der Verfolgung in Katakomben getroffen haben. Etwa 30.000 Kinder wurden in der deutschen Sprache unterrichtet. Nach dem regulären Unterricht an der italienischen Volksschule trafen sich Lerngruppen in Gaststätten und Bauernhöfen. Die Lehrmittel hatte man aus Deutschland und Österreich nach Südtirol geschmuggelt. Junge Lehrerinnen wurden in Gruppen ausgebildet, die als Nähkurse oder Erholungsreisen getarnt worden waren. Wurde eine Notschule enttarnt, mussten Lehrkräfte und Eltern mit drakonischen Geldstrafen, Freiheitsentzug oder Verbannung rechnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte aufgrund des Südtiroler Autonomiestatuts das öffentliche Schulsystem mit deutscher Unterrichtssprache wiedereröffnet werden. [Villgrater 1984]

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Solche Geheimschulen gab es überall in Europa, weil zu dieser Zeit in vielen Staaten die jeweiligen Regional- oder Minderheitensprachen verboten wurden. In Frankreich wurde sowohl das Bretonische und Korsische als auch die Langue d’oc, die Sprache Okzitaniens, als „Patois“, als Sprachen des Pöbels, verachtet, und immer wieder wurde die Verwendung der Sprachen in der Öffentlichkeit verboten. In Okzitanien mussten Lehrkräfte den Schülerinnen und Schülern, die in der „falschen“ Sprache kommunizierten, einen Holzschuh um den Hals hängen. Dieses „senhal“ (Zeichen) konnte man wieder loswerden, indem man Klassenkameraden denunzierte. Wer am Ende des Schultages das Zeichen umhatte, wurde bestraft. Ab den 1960er Jahren organisierten Eltern und Kulturschaffende in Jugendzentren, Sportvereinen oder Kirchen nicht genehmigten okzitanischen Unterricht, in dem neben der Sprache auch die regionale Geschichte und Kultur gelehrt wurde. Im Zuge der politischen Selbstbestimmungsbewegungen in den 1970er Jahren begannen junge Lehrkräfte in den staatlichen Schulen zweisprachig zu unterrichten und den Lehrplan zu „entkolonisieren“. 1975 konnte zum ersten Mal die Abiturprüfung im Wahlpflichtfach „Okzitanisch“ abgelegt werden, seit 1980 gibt es die „Calandreta“, das sind staatliche bilinguale okzitanische Schulen. [Marti 1981]

„In Polen gibt es gleichsam eine Tradition geheimen Unterrichts, mit dem man sich der Politik der Besatzungsmacht widersetzt und sich effizient einer staatlichen Kontrolle entzieht. Den ersten geheimen Unterricht gab es nach der dritten Teilung Polens, als der Unterricht in polnischer Sprache in den von Preußen und Russland besetzten Gebieten verboten wurde, während der Vielvölkerstaat Österreich den Polnischunterricht förderte. In dieser Zeit organisierten polnische Pädagogen und Intellektuelle geheimen Unterricht in polnischer Sprache, der in privaten Räumen stattfand.

Während des Kulturkampfs in Deutschland verfolgte die preußische Schulpolitik die gleiche restriktive Linie. 1873 wurde der Schulunterricht in polnischer Sprache in den ehemals polnischen Gebieten, mit Ausnahme des Religionsunterrichts, verboten. Ab 1906 musste auch Religion in deutscher Sprache unterrichtet werden. Polnisch wurde also weiterhin im Geheimen unterrichtet.

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Nach der kurzen Phase der Unabhängigkeit von 1918 bis 1939 wurde Polen ein weiteres Mal – zwischen Deutschland und der Sowjetunion – aufgeteilt. Da in beiden Zonen die polnische Sprache entweder verboten (Schlesien, Pommern) oder als minderwertig diskriminiert wurde, organisierte sich wieder eine Untergrundbewegung, die für das Weiterleben der polnischen Sprache und Kultur sorgte. Die ‚Tajna Organizacja Nauczycielska‘ (Geheime Lehrerorganisation, TON) organisierte den geheimen Unterricht in polnischer Sprache, finanzielle Unterstützung gab es von der Britischen Regierung und durch Zuwendungen der Familien der Schüler. Der Unterricht fand in der Regel in kleinen Gruppen in Privatwohnungen und im Ghetto statt. Der geheime Unterricht wurde von den Besatzern rücksichtslos bekämpft, und die beteiligten Lehrer arbeiteten immer unter Lebensgefahr. Dennoch erhielt in der Zeit des Generalgouvernements jedes dritte Kind eine Art von Bildung durch die Untergrundorganisationen.“ [Bukowska o.J.]

Seit dem 17. Jahrhundert leben deutschsprachige Minderheiten in Georgien, die bis zum Einmarsch der Roten Armee 1921 eigene konfessionelle, private und öffentliche Schulen haben durften. Ab 1924 wurde die Aufnahme neuer Kinder in die deutschsprachigen Schulen verboten, Lehrkräfte wurden teilweise entlassen und/oder verhaftet. Ab 1941 begann die Zwangsdeportation der deutschen Minderheit nach Kasachstan. Wohl einmalig in der Sowjetunion waren deutschsprachige illegale Kindergärten. Aufgenommen wurden Kinder ab vier Jahre, die Betreuung fand täglich in zwei Schichten und zumeist in den Plattenbauwohnungen („Chruschtschowkas“) der „Tanten“ statt. Aus Angst vor Entdeckung durch Denunziation gingen die Tanten aber auch zu den Kindern nach Hause oder trafen sich mit ihnen im Wald. Neben der Sprache waren es vor allem die reformpädagogischen Konzepte, die in den staatlichen Kindergärten in dieser Weise nicht denkbar waren, weshalb die Eltern diese Einrichtungen bevorzugten. Die „Tanten“ waren der Deportation entgangen, weil sie mit Georgiern verheiratet waren. Der letzte deutsche Kindergarten in der Hauptstadt Tiflis wurde 2005 geschlossen. [Lejava 2020]

Als der damalige serbische Präsident Slobodan Milosevic 1989 den Autonomiestatut des Kosovo abschaffen ließ, verloren viele Albanerinnen und Albaner ihre Stellungen in Staat und Wirtschaft. Albanische Kinder durften nicht mehr in die staatlichen Schulen gehen, teilweise boykottierten sie diese auch. Kranke mieden die Kliniken oder wurden dort nicht mehr geduldet. Aus der Not schufen die Albanerinnen und Albaner deshalb ein Parallelsystem von Krankenstationen und vor allem Untergrundschulen: In privaten Wohnungen gaben entlassene Lehrkräfte Schulunterricht für Kinder, Professorinnen und Professoren führten Seminare für Studierende durch. Diese Bildungsangebote wurden deshalb als Wohnzimmerschulen bezeichnet. Nach der Unabhängigkeit des Landes 2008 konnte das albanische Parallelsystem in das Regelsystem überführt werden. [Rathfelder 2010]

In den belagerten Gebieten Syriens wurden Kellerschulen eingerichtet, um den Kindern Zufluchtsorte vor der Kälte und Gewalt sowie sichere Lernräume zu bieten. Kinder, die aus Angst vor Angriffen, Vertreibungen oder Verletzungen die Schule abgebrochen haben, können in diesen Untergrundschulen Zuversicht gewinnen und ihre Ausbildung fortsetzen. Auch Jugendliche mit einer Behinderung dürfen hier lernen. Nach sechs Jahren Konflikt in Syrien haben schätzungsweise 1,75 Millionen Kinder die Schule aufgrund von Vertreibung, Armut oder Angst vor Angriffen abgebrochen. 2016 verzeichneten die Vereinten Nationen mehr als 300 Angriffe auf Bildungseinrichtungen, bei denen 69 Kinder getötet und viele weitere verletzt wurden. UNICEF stellte mehr als drei Millionen Kindern Lehrbücher und Schreibwaren zur Verfügung. Darüber hinaus wurde ein Grundbildungsprogramm („Curriculum B“) entwickelt, das auf ein beschleunigtes Lernen für Kinder mit diskontinuierlichen Schulbiografien abzielt. [www.insdip.com]

Als in Afghanistan die Taliban regierten, durften Mädchen nicht in die Schule gehen. Engagierte Lehrerinnen gründeten daraufhin geheime Schulen, die manchmal als Koranschulen getarnt wurden. Oftmals wurden zunächst nur die eigenen Kinder und die aus der Nachbarschaft unterrichtet, häufig entwickelten sich daraus größere Einrichtungen. Auch dieser Unterricht fand zumeist in Privatwohnungen, Schuppen oder Garagen statt. Viele Schülerinnen haben studiert, engagieren sich in Frauenzentren, geben Alphabetisierungskurse oder bieten Computer- und Englischkurse sowie berufliche Bildung an. [www.deutschlandfunk.de]

Bukowska, Ewa (o.J.): Illegale Schulen in Polen in den Jahren 1939-1945. www.polishresistance-ak.org – Lejava, Nino (Hrsg.) (2020): Unsere Deutschen Tanten. Von Auswandererschulen und illegalen Kindergärten in Georgien. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag. – Marti, Claude (1981): Ich bin Okzitane. Ein Land das leben will – ein Land das stirbt. Neu Isenburg: Verein zur Förderung der deutsch-okzitanischen Freundschaft. – Rathfelder, Erich (2010): Kosovo. Geschichte eines Konflikts. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – Villgrater, Maria (1984): Katakombenschule. Faschismus und Schule in Südtirol. Bozen: Athesia.