Armenschule

Der Terminus kann als einer der übergreifenden (→) Begriffe verstanden werden für die Gesamtheit der Schulen, die in diesem Online-Lexikon dargestellt werden. Ursprünglich wurde in Ragged Schools den Kindern das Schulgeld erlassen, um die Teilnahme am Unterricht zu ermöglichen bzw. die Schulpflicht durchzusetzen. Die Einrichtungen wurden Lumpenschulen genannt, weil sie die allerärmsten Kinder aufnahmen, die oftmals nur in Lumpen gekleidet waren. Im Mittelalter waren diese Schulen fast ausschließlich in kirchlicher Trägerschaft, später wurde Armutsbekämpfung vor allem in den Freien Städten als Pflicht der „öffentlichen Hand“ betrachtet. Im Jahr 1542 entstand in Ypern die erste Armenschule, die aus der „ghemeene buerse“, dem städtischen Budget, finanziert wurde. In England, den Niederlanden und in einigen Städten und Ländern des Deutschen Reiches entstand daraus ein umfangreiches Armenschulwesen, sodass vielen Kindern der Schulbesuch ermöglicht werden konnte, der sich allerdings oftmals auf nur wenige Jahre und im Wesentlichen auf die basale Alphabetisierung beschränkte. [Meumann 1995]

Die Diskursfigur „des Armen“ fasst indes erschwerte Lebensbedingungen unterschiedlichster Art. Deshalb wurden schon im Mittelalter Einrichtungen geschaffen wie die Findelhäuser, in denen erzieherische Konzepte entwickelt wurden, die auf die Lebensbedingungen von Waisen, bettelnden, ausgesetzten und verwahrlosten Kindern, oder solchen mit einer Behinderung ausgerichtet wurden. Klösterliche, pietistische und humanistische Bewegungen bauten dann ab dem 16. Jahrhundert die Rettungshäuser auf, deren Gründer Unterricht als wichtiges Mittel zur Bekämpfung der Verwahrlosung und Armut sahen, geleitet von der Auffassung, dass Erziehung, verstanden als pädagogische Zuwendung zum Kinde, aus Armut retten kann [Scherpner 1979].

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Der in Dänemark geborene Jacob Riis (1849-1914) gilt als einer der Begründer der Sozialfotografie. Er hat sich für den Alltag in den Slums von New York interessiert, den er in „How the Other Half Lives“ (1890) und „Children of the Poor” (1892) eindrucksvoll dokumentierte. Das Besondere an seinen Arbeiten ist, dass er die Kinder oftmals in Erziehungseinrichtungen fotografiert hat, sodass die Bücher einen guten Überblick zur Vielfalt der Fürsorgeanstalten und Armenschulen dieser Zeit in New York geben: Der „Leinentuchpalast“ bot den Kindern billigste Übernachtungsplätze, wie Hängematten spannten sich lange Reihen von Leintuchstreifen zwischen Holzbalken auf, die die Betten ersetzten. In einer ehemaligen Brauerei war ein Heim für elternlose und misshandelte Kinder eingerichtet worden. In der Blindengasse wurden Lotterielose verkauft für den Armenfonds „Outdoor Poor“, aus dem u.a. Stipendien für blinde Kinder finanziert werden konnten. Die „Children‘s Aid Society“ unterhielt in der Stadt sechs Pensionen für die Zeitungsjungen und kleinen Schuhputzer. Auf einem achtstöckigen Mietshaus in den Mott Street Barracks war auf dem Dach neben den Außentoiletten ein notdürftig abgegrenzter Spielplatz für die Kinder eingerichtet worden. „Klein Susie bei der Arbeit“ heißt ein Foto, das ein vierjähriges Mädchen zeigt, die täglich zweihundert Blechbehälter für Trinkflaschen mit Leinen beklebte, vor der Arbeit machte sie Botengänge, abends ging sie zur Schule. Die Straßenkinder wurden „Street Arabs“ genannt, in der privaten Mott Street Industrial School wurden 8.000 Kinder in praktischen Fähigkeiten unterrichtet, erhielten eine warme Mahlzeit sowie medizinische Versorgung. Eine Straße weiter wurden in der Beach Street Industrial School die Kinder aus Immigrantenfamilien, wieder ein paar Straßen weiter landlos gewordene und in die Stadt abgewanderte Irokesen unterrichtet. Das vielleicht bekannteste Bild von Riis zeigt eine (→) Nachtschule in der West-Side-Pension, in der Hausierer alphabetisiert wurden; der neunjährige Edward ist in der Schulbank vor Erschöpfung eingeschlafen. Nicht weit davon gab es eine Synagogenschule, der Pausenhof mit schmutzigen Schlammpfützen und Spülwassertonnen, umgeben von faulig riechenden Mietskasernen. Das Frauenquartier der Polizeistelle in der Eldridge Street würden wir heute Anlaufstelle für Wohnungslose nennen, um die Ecke befand sich das Polizeiasyl für Männer: Ein einäugiger englischer Jugendlicher, neunzehn Jahre alt, hockt traurig und alleine in der Ecke, zermürbt nach drei Tagen vergeblicher Arbeitssuche, ohne einen einzigen Penny. „Pietro lernt einen Brief auf Englis‘ zu schreiben“ ist ein Foto betitelt, das einen italienischen Jungen zeigt, der seit einem Straßenbahnunfall querschnittgelähmt ist, nun nicht mehr als Schuhputzer arbeiten kann und autodidaktisch im Homeschooling versucht, sein Englisch zu verbessern. Das Bild „Wo tagsüber das Gaslicht brennt“ prangert die unzureichend ausgestatteten Schulräume an, dunkel, feucht, eng, teilweise fensterlos, und allenfalls mit stinkenden Aborten. [Riis 1971, 2018; Yochelson 2001]

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Fast zeitgleich gab der Schriftsteller, Reporter und Sozialforscher Hans Ostwald (1873-1940) zwischen 1904 und 1908 die „Großstadt-Dokumente“ heraus, eine aus 51 Bänden bestehende Sammlung von Reportagen und Studien zu Berlin, Hamburg und Wien. „Dunkle Winkel in Berlin“ (Band 1) oder „Im Unterirdischen Wien“ (Band 13) – mit solchen Begriffen wurden damals die von Armut, Prostitution und Kriminalität geprägten Quartiere der Großstädte beschrieben. Die einzigartige Quellensammlung zur Sozialgeschichte der Armut ist ein Frühwerk der Stadt-Ethnographie: Das erste Großstadt-Dokument, von Ostwald selbst verfasst, berichtet vom Alltag von Obdachlosen und von Projekten, um sie in Arbeit zu bringen (Band 1). „Berlins drittes Geschlecht“ skizziert die marginalisierten Lebenslagen von Schwulen (Band 3) und „Die Tribadie Berlins“ die von Lesben und Transgender (Band 20), beide Dokumente erörtern auch die vorhandenen Bildungsangebote für diese Gruppen. „Zehn Lebensläufe Berliner Kontrollmädchen“ und „Wiener Mädel“ widmen sich der Mädchenprostitution und den Aussteigerinnenprojekten (Band 17, 23), und etwas später erscheint eine Dokumentation zum „Internationalen Mädchenhandel“ (Band 37). „Uneheliche Mütter“ thematisiert den Schulabbruch aufgrund von Teenager-Schwangerschaften (Band 27). „Schwere Jungen“ und drei weitere Bände geben Inneneinsichten aus dem Jugendstrafvollzug, den Arbeitshäusern und den Resozialisierungsprogrammen für straffällige Minderjährige (Band 16, 28, 31, 33), und schließlich widmet sich noch eine Untersuchung der Delinquenz von Mädchen (Band 48). „Großstädtisches Wohnungselend“ (Band 45) und „Gefährdete und verwahrloste Jugend“ (Band 49) schildern u.a., wie Lehrkräfte auf solche Kindheitsmuster reagieren. [Thies 2006; Böhm 2020]

Wie Riis mit den Fotografien zeigt Ostwald mit seiner „Dokumente“-Reihe die zielgruppenspezifische Ausdifferenzierung von Konzepten, Einrichtungen und Methoden der großstädtischen Armenschulen für das „Lumpenproletariat“, die allesamt aufs engste verknüpft sind mit der Jugendfürsorge. Viele dieser Ansätze werden bis heute – konzeptionell modernisiert, didaktisch weiterentwickelt – genutzt, um Kinder und Jugendliche in prekären Lebenslagen zu unterstützen. Neue Zielgruppen werden ‚entdeckt‘: junge Geflüchtete, die armen Kinder auf dem Lande, die sich in der Landwirtschaft verding(t)en und deshalb ebenfalls oftmals nicht oder nur unregelmäßig zur Schule gehen können, die nomadisch lebenden Kinder, für all diese Lebenslagen werden ‚angepasste‘ Schulkonzepte entwickelt. Mit neuen Lernorten wird experimentiert: Schule auf der Straße und in Kellern, in Bussen und Wohnwagen, in Zelten und auf dem Schiff. Schule kann durch Nutzung von Radio, Fernsehen oder digitalen Medien die Kinder und Jugendlichen noch in den entlegensten Gegenden der Welt erreichen. Schule verändert die Lernzeiten und findet vor dem Sonnenaufgang, nachts oder nur in bestimmten Jahreszeiten statt. Und Armenschulen können manchmal nur im Geheimen, im Widerstand und Untergrund ermöglicht werden. Dieses Online-Lexikon versucht, ein umfassendes Bild zu diesen zeitgenössischen Armenschulen zu geben.

Böhm, Thomas (Hrsg.) (2020): Berlin - Anfänge einer Großstadt: Szenen und Reportagen 1904-1908. Berlin: Galiani. – Meumann, Markus (1995): Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord. Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft, München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag. – Riis, Jacob A. (1971): How the Other Half Lives. New York: Dover Publications (Reprint des Originals von 1890). – Riis, Jacob A. (2018): The Children of the Poor: A Child Welfare Classic. Pittsburgh: TCB Classics (Reprint des Originals von 1892). – Scherpner, Hans (1979): Geschichte der Jugendfürsorge. Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht. – Thies, Ralph (2006): Ethnograph des dunklen Berlin. Hans Ostwald und die „Großstadt-Dokumente“ (1904-1908). Köln: Böhlau-Verlag. – Yochelson, Bonnie (2001): Jacob Riis. Berlin: Phaidon.