Daara

In den meisten frankophonen Ländern Westafrikas (Senegal, Mali, Niger, Guinea) gibt es ein staatliches „westliches“ Schulsystem aus der Kolonialzeit, das 1903 nach französischem Vorbild für die ganze Region geschaffen wurde. Daneben besteht ein vorkoloniales islamisches Bildungssystem; diese so genannten arabischen Schulen sind vor allem in den ländlichen Gebieten die am häufigsten und ausschließlich von Jungen besuchten Bildungseinrichtungen. Sie sind auch in den Städten ganz überwiegend als Internatsschulen organisiert, die Daara genannt werden und in denen Marabouts unterrichten, das sind Koran- und Arabischlehrer, die einer am Sufismus ausgerichteten muslimischen Bruderschaft angehören. Bis zu zwanzig religiöse Schüler (Talibés) leben in den Daara zusammen und erhalten dort eine maximal zehnjährige Ausbildung, einzelne muslimische Bruderschaften nehmen auch Mädchen auf. Im Gegenzug arbeiten die Talibés in den ländlichen Gebieten auf den Feldern des Marabouts, in den Städten werden sie, barfuß, in Lumpen gekleidet und mit einer Spendenbüchse ausgestattet, vor allem zum Almosensammeln auf die Straße geschickt und werden deshalb als Talibés mendiants (Bettelkinder) bezeichnet [Wiegelmann 2002, Adick 2013].

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Muslimische Bruderschaften spielen eine große Rolle im politischen Leben Westafrikas und auch im Bildungswesen, denn der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung gehört dem Islam an. Traditionell hatte jedes Dorf oder jede Nachbarschaft eine Daara, in denen den Kindern, die zumeist zu Hause lebten, Koranunterricht erteilt wurde. In der Kolonialzeit wurden teilweise bis heute bestehende Daara-Farmen zum Anbau von Hirse und Erdnüssen geschaffen, die von der Bruderschaft verwaltet werden und in denen die Kinder arbeiten. Der Unterricht erfolgt hauptsächlich in der Jahreszeit, in der es wenig auf den Feldern zu tun gibt. Die Daara in den ländlichen Regionen werden überwiegend durch Spenden der Bevölkerung und der Bruderschaften finanziert, kostenpflichtige Daara in städtischen Gebieten sind für Familien mit mittleren bis hohen Einkommen, teilweise erteilt der Marabout hier auch Hausunterricht. Es gibt überdies viele informelle Daara in armen städtischen oder halbstädtischen Gebieten gelegen, die schwer zu quantifizieren sind und weder reguliert noch von den staatlichen Schulbehörden kontrolliert werden. Der hier erteilte Unterricht gilt als unzureichend [Chehami 2016, Volk 2017]

Die Daara wird von vielen muslimischen Eltern gewählt, weil die staatlichen Schulen nicht in der Lage sind, die ökonomische Versorgung mit der Bildung der Kinder zu verknüpfen. Die gemeindebasierte Daara entspricht dem System der traditionellen lokalen Werte, die auf dem Islam beruhen, sie ist ein Ort, der Bildung bietet und gleichzeitig Anleitungen für ein Leben in einer Glaubensgemeinschaft gibt. Die Eltern bringen die Kinder in eine Daara, mit deren Marabout die Familie eng verbunden ist. Trotz der Abwanderung in die Stadt werden über die Daara die sozialen Beziehungen zur Großfamilie und dörflichen Gemeinschaft erhalten, für die weit entfernt von ihren Heimatgemeinden lebenden Kinder entstehen Netzwerke, in denen sie Unterstützung und soziale Beziehungen erleben. Ein Aufenthalt in einem Daara-Internat über die Pubertät hinaus scheint indes heutzutage nicht mehr den Wünschen der jungen Männer zu entsprechen, weil sie zumeist nicht über ein Training für die Arbeit im informellen Wirtschaftssektor hinausführen und kaum Perspektiven für eine finanzielle Unabhängigkeit und berufliche und soziale Karriere aufzeigen. [Chehami 2016]

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Bezogen auf Senegal zeigt sich, dass insbesondere die Talibés mendiants unter sehr harten Bedingungen leben, die von internationalen Organisationen kritisiert werden. Tagsüber müssen sie in den Straßen um Essen und Geld betteln, Plastikflaschen oder Metallreste sammeln, Gelegenheitsarbeiten am Busbahnhof oder Markt verrichten, teilweise stehlen sie, um die vom Marabout geforderten Summen zusammenzubekommen, andere nehmen Drogen. Sehr arme Familien aus dem portugiesisch-sprachigen Guinea-Bissau schicken ihre Kinder manchmal ebenfalls in eine senegalesische Daara, sodass es zu erheblichen Verständigungsproblemen kommen kann. Die Daaras werden in kleinen Häusern aus Stein oder Holz, in verlassenen Gebäuden oder Baustellen eingerichtet, manchmal ohne Dach, Elektrizität, Wasser oder sanitäre Anlagen. Schutz vor Regen, Hitze oder Kälte bieten sie oftmals nicht. Die medizinische Grund- oder Akutversorgung ist nicht gewährleistet. Viele Kinder werden wohl von den Marabouts geschlagen, misshandelt und auch missbraucht. [Großjean 2015]. Eindrücklich zeigt die Fotoreportage „In the Name of Koran“ des Fotografen Sebastian Gil Miranda den Alltag der Jungen und Mädchen in den Daaras. [www.sebastiangilmiranda.com]

Etwa ab 2004 wurden im Senegal staatliche Aufsichtsbehörden für die Daaras geschaffen (Inspection des daara) und „moderne Daara“ finanziell gefördert, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen. Es muss eine Einrichtung sein, die Schüler zwischen fünf und 18 Jahren aufnimmt und eine achtjähige Bildung anbietet. In den ersten drei Jahren wird in der lokalen Sprache unterrichtet, wobei das Auswendiglernen des Korans im Mittelpunkt steht. Die zweite Phase, die zwei Jahre lang dauert, führt das Memorieren des Korans weiter und lehrt außerdem den Unterrichtsstoff der drei ersten Jahre der staatlichen Elementarschule. In der dritten Phase, die wieder drei Jahre umfasst, wird der Unterrichtsstoff der drei letzten Jahre der Elementarschule vermittelt. Am Ende der Ausbildung wird der staatliche Grundschulabschluss erteilt, mit dem dann eine Sekundarschule besucht werden kann. Daneben gibt es eine beträchtliche Anzahl von Daaras, die an einem staatlichen Modernisierungsprogramm teilgenommen haben; sie werden als „modernisierte Daaras“ bezeichnet. Solche Projekte werden auch von internationalen NGOS oder Vereinen unterstützt [D'Aoust 2013; www.senegalverein.de]

Adick, Christl (2013): Die Bildungssysteme in Senegal: westlich und / oder islamisch? In: Schelle, Carla (Hrsg.): Schulsysteme, Unterricht und Bildung im mehrsprachigen frankophonen Westen und Norden Afrikas. Münster: Waxmann Verlag, 31-33. – Chehami, Joanne (2016): Les familles et le daara au Sénégal. In: Afrique contemporaine No 257, 77-89. – D’Aoust, Sophie (2013): Écoles franco-arabes publiques et daaras modernes au Sénégal: hybridation des ordres normatifs concernant l’éducation. In: Cahiers de la recherche sur l'éducation et les savoirs, 12, 313-338. – Großjean, Anne (2015): Die talibés mendiants – eine qualitative Studie zur Situation der Straßenkinder in Saint-Louis, Senegal. Masterarbeit an der Fakultät Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg (unveröffentlicht). – Volk, Thomas (2017): Auf dem Weg in die Marabukratie? Muslimische Bruderschaften und ihr Einfluss in Senegal. In: Auslandsinformationen, 4, 32-45. – Wiegelmann, Ulrike (Hrsg.) (2002): Afrikanisch – europäisch – islamisch? Entwicklungsdynamik des Erziehungswesens in Senegal. Frankfurt/ IKO-Verlag.