Erziehungsschiffe

Als 2021 die „Peking“, ein Viermaster-Segelschiff, nach einer aufwendigen Restaurierung unter großem medialen Interesse im neuen Hamburger Hafenmuseum ihren vorläufig letzten Ankerplatz fand, blieb zumeist unerwähnt, dass sie nicht nur als Frachtschiff eingesetzt worden war, sondern vierzig Jahre lang unter dem Namen „Arethusa“ als Ausbildungsschiff für schwererziehbare männliche Jugendliche diente, die dort in 18 Monaten (in Einzelfällen auch in 36 Monaten) zu lebenstüchtigen Menschen reifen sollten. Eine englische Erziehungshilfeeinrichtung in Upnor in der Grafschaft Kent hatte 1932 den Segler günstig gekauft und bis 1975 als schwimmendes Internat genutzt.

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Die seit 1843 bestehende „Shaftesbury Homes and Arethusa Training Ship Co.“ ist eine der ältesten Wohlfahrtseinrichtungen Großbritanniens. Gegründet wurde sie von dem Rechtsanwaltsgehilfen William Williams, nachdem er einer Gruppe schmutziger, halb erfrorener Londoner Straßenjungen begegnet war, die mit schweren Eisenketten miteinander verbunden wie Sklaven auf ihre Abschiebung in die damalige britische Strafkolonie Australien warteten. In Williams „Lumpenschule“ (Ragged School) konnten die Straßenkinder Lesen, Schreiben, Rechnen lernen und eine einfache Berufsausbildung absolvieren (→ Armenschulen). Ihren Namen erhielt die Gesellschaft im Jahr 1866 von Lord Shaftesbury, der Williams über die 1844 gegründete Vereinigung der Lumpenschulen kennen und schätzen gelernt hatte. In Folge konzentrierte man die Ausbildung auf seemännische Berufe, und noch später kamen Heime für obdachlose Kinder und Jugendliche in und außerhalb Londons dazu. 2006 wurde die Organisation in „Shaftesbury Young People“ umbenannt, die indes weiterhin sozialbenachteiligte Kinder und Jugendliche unterstützt.

Lord Shaftesbury war der Überzeugung, dass Straßenjungen am besten auf See aufgehoben wären. Um sie darauf vorzubereiten, lieh die Gesellschaft von der Royal Navy eine ausgediente hölzerne Fregatte, die „Chichester“, die in der Themse vor Greenhithe verankert wurde und 250 Jungen beherbergen konnte. Von 1866 bis 1874 hatten schon 1.300 vorher obdachlose Jungen auf dem Schiff eine solide Seemannsausbildung bekommen. Im Jahr 1932 folgte dann die Peking/Arethusa, in die ein zusätzliches Deck eingezogen, Wohnkammern, Schul- und Sporträume sowie weitere für den Betrieb als Erziehungsschiff notwendige Einrichtungen eingebaut wurden.

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Die Kinder wurden nur mit einer Nummer gerufen, es gab sparsames Essen und es galt eine strenge Disziplin mit Prügelstrafen. Die Ausbildung jedoch war gründlich, sie bestand aus der Arbeit mit Kompass, Lot und Knoten, Segel nähen und andere Seemannsarbeiten inklusive Zimmerei und Schneiderei. Nach dem Abschluss bekamen die Jungen noch die Grundausstattung für einen Seemann mit auf ihren weiteren Lebensweg: einen Satz Bekleidung inklusive Ölzeug, eine Decke, Nähzeug, Handtuch, zwei Kämme, vier Pfund Seife und einen Seesack. Die erheblichen Unterhaltskosten einerseits, der Rückgang der vormals riesigen britischen Fischerei- und Frachtflotte andererseits und damit auch eine geringere Nachfrage nach Seeleuten führten dazu, das Programm dann Ende der 1970er Jahre einzustellen und die Viermastbark zu verkaufen. Insgesamt waren über 12.000 Jungen ausgebildet worden. [www.childrenshomes.org.uk; www.peking-freunde.de]

Schwarz-weiß-Aufnahme: Dutzende jugendliche Matrosenschüler sitzen in einem Schiffsraum in zwei Reihen und üben Knoten; ein Ausbilder in Uniform kontrolliert die Arbeit.
Historisches Foto: Hemdlose Jungen schreiben an Schulpulten in einem belüfteten Zwischendeck; durch Bullaugen fällt Tageslicht, während ein Lehrer die Reihe entlanggeht.

Unterrichtsräume in der Arethusa

[Quelle: www.peking-freunde.de; Abdruckgenehmigung erhalten am 02.06.2021]

In den 1980er Jahren wurden im Rahmen der (→) Intensivpädagogik im Ausland auch in Deutschland mehrere Projekte mit Segelschiffen entwickelt. Die sozialpädagogischen Segeltörns der „Anna Catharina“, „Thor Heyerdahl“ oder „Fortuna“ zogen mediale Aufmerksamkeit auf sich. In solchen erzieherischen Angeboten verbringen ca. vier bis sechs Jugendliche mit zwei bis drei Betreuenden mehrere Monate auf einem Segelschiff und begeben sich auf große Fahrt. Oft werden hierfür historische Segler eingesetzt. Die Reise führt in der Regel an ferne Küsten und in fremde Länder. Es wird vor allem gruppenbezogen gearbeitet und die klaren Regelwerke und Abläufe, die das Meer und das Schiff vorgeben, werden erlebnispädagogisch genutzt. Die erzieherischen Wirkungen waren oftmals nicht wie erhofft, und die Reintegration an Land blieb schwierig. Immerhin ist die maritime Jugendsozialarbeit jedoch eines der wenigen relativ gut empirisch untersuchten intensivpädagogischen Handlungsfelder. Heute findet sie eher als Reisepädagogik im „segelnden Klassenzimmer“ mit überwiegend kurzen, mehrtägigen erlebnispädagogischen Angeboten in der Regelschule statt. [Hinze 1988; Hegemann 1992; Merkle/Piruzgar 1994; Huhnen 2002; ZERUM 2017]

Ein Erziehungsschiff der ganz anderen Art ist die „Borgesch“, ein Bildungsprojekt mit Jugendlichen, für die Deutschland das „Ausland“ ist. Unter dem Motto „Alle an einem Boot“ haben in Hamburg Geflüchtete und Einheimische, Junge und Alte, Fachkräfte und Laien gemeinsam einen historischen Jugendwanderkutter restauriert. Das alte Schiff sollte wieder schwimmen und junge Flüchtlinge sollten Wind in die Segel bekommen – mit diesem Leitbild hatte 2016 die vor Ort ansässige Stiftung „Haus im Park“ ein Projekt begonnen, das geflüchteten Schülerinnen und Schülern aus der im Stadtteil angesiedelten allgemeinbildenden sowie beruflichen Schulen Arbeitsmöglichkeiten in regelmäßigen Tagespraktika, an Nachmittagen oder im Rahmen von Projekten ermöglichte. Für die an der Kooperation beteiligte Gewerbeschule fungierte die kleine Bootsbauerwerft als Praxisstelle zur Ableistung von unterrichtsbegleitenden Praktika im Rahmen der Berufsvorbereitungsmaßnahmen, in der jeweils ein betrieblicher Lernort regelhaft vorgesehen ist, an dem die jungen Flüchtlinge parallel zum Schulunterricht zwei Tage im Betrieb verbringen. Das Projekt wurde überwiegend ehrenamtlich getragen, lediglich der Leiter war ausgebildeter Bootsbauer und erhielt eine Aufwandsentschädigung. Finanziell unterstützt wurde das Vorhaben von einigen Stiftungen sowie einzelnen Gewerbetreibenden aus der Nachbarschaft.

Holz-Segelkutter mit drei rostroten Gaffelsegeln liegt an einem Steg im Abendlicht; Aufnahme zeigt Ausbildungsboot eines Erziehungsschiff-Programms.

Stapellauf der Borgesch 2019

[Quelle: www.stiftung-hausimpark.de; Abdruckgenehmigung vom 19.11.2019]

Nach der Fertigstellung wurde 2019 das Schiff an den Verein Haus Warwisch e.V. übergeben, der erlebnispädagogische Angebote für benachteiligte Kinder und Jugendliche im Stadtteil offeriert. Die mitarbeitenden Jungs waren zwischen 15 und 18 Jahre alt und kamen überwiegend aus Eritrea. Die Verständigung funktionierte anfangs mit Händen und Füßen. [SHiP 2019; www.stiftung-hausimpark.de]

„Es kann vermutet werden, dass das Boot jenseits des Bezugspunkts zu einer arbeitsweltbezogenen Kommunikation in deutscher Sprache selbst ein Medium für die Verarbeitung eigener Fluchterlebnisse ist, auch wenn die jungen Geflüchteten in der Regel darüber schweigen. Eine Betreuerin berichtet, dass beim Hämmern an der Planke Geschichten erzählt werden und Emotionen zutage kommen, die die Verschlossenheit der Jugendlichen aufbricht, indem diese von ihrem Zuhause erzählen, über ihre Eltern und ihre Erlebnisse mit Freunden berichteten, die in den Herkunftsländern zurückgeblieben sind. ‚Oftmals handeln die Geschichten auch vom Alleinsein hier in Deutschland, von dem belastenden Leben in den Unterkünften, von kaputten Füßen, Schlaflosigkeit und Bauchweh‘.“ [Gag 2018, 122]

Gag, Maren (2018): Praktika und noch viel mehr … Betriebe als wichtige „Lernbegleiter“ und Bildungsorte. In: Schroeder, Joachim (Hrsg.): Geflüchtete in der Schule. Stuttgart: Kohlhammer, 115-130. – Hegemann, Thomas (1992): Untersuchungen zum Rehabilitationserfolg eines sozialtherapeutischen Segelschiffprojektes. In: Zeitschrift für Erlebnispädagogik, 3, 14-22. – Hinze, Thomas (1988), Langzeittörns mit verhaltensauffälligen Jugendlichen. Eine mögliche Alternative zur geschlossenen Unterbringung. Diplomarbeit. Universität Bielefeld. – Lauterbach, Bettina (1988): Öffentliche Erziehung auf einem Segelschiff – Erfahrungen aus dem Projekt „NOSTRA“ des Rauhen Hauses in Hamburg. Diplomarbeit: Evangelische Hochschule Hamburg. – Huhnen, Mark (2002): Längerfristige Segelprojekte mit jungen Menschen in psychosozialen Notlagen vor dem Hintergrund pädagogischer, gesellschaftlich-politischer und finanzieller Aspekte. Diplomarbeit: Fachhochschule Münster. – Merkle, Karin; Piruzgar-Merkle, Thomas (1994): Jugendschiff Anna Catharina. In: Zeitschrift für Erlebnispädagogik 2/3, 72-76. – SHiP – Stiftung Haus im Park (2019): SHiP Ahoi – Alle an einem Boot. Hamburg: SHiP. – Zentrum für Erlebnispädagogik und Umweltbildung (2017): Konzept für die maritime Jugendsozialarbeit am Zentrum Ueckermünde: ZERUM.