Familienklassen – Familienschulen
Diese Bildungsangebote fokussieren auf das Handlungsfeld der Schulverweigerung, in dem es auch etliche andere pädagogische Ansätze gibt (→ Lernwerkstätten, Fernschulen). Das familienbezogene und zugleich schulnahe Konzept orientiert sich in Deutschland überwiegend am „Marlborough Modell“, das an einem Familienzentrum in England entwickelt worden ist. Diese systemische Therapieform wird in einem Gruppenansatz mit sechs bis acht Familien zusammen (Multifamilientherapie) und oftmals in der Schule umgesetzt. Die Teilnehmenden beraten sich gegenseitig, während die anwesenden Therapeutinnen oder Therapeuten die Gespräche so wenig wie möglich moderieren. Familienklassen und -schulen sind in England und Dänemark ab 2003 und seit 2006 in Deutschland implementiert worden. [Asen et al. 2001; Hviid 2006; Castello et al. 2016]
Familienklassen gibt es an Regel- oder Förderschulen. Die ersten „Familien in Schule-Klassen“ (FiSch) in Schleswig-Holstein waren noch mehr oder weniger direkt an eine Klinik angeschlossen und zielten auf eine Re-Integration von Schülerinnen und Schülern, die wegen psychiatrischer Auffälligkeiten teilstationär behandelt wurden, in ihre Regelklassen ab. Mittlerweile arbeiten die FiSch-Klassen generell an der Integration nicht beschulbarer Kinder und Jugendlicher in Förderschulen, unter anderem zur Gewaltprävention. Sie können auch wichtig bei der Familienzusammenführung nach Gefängnisstrafen sein. Ein Ziel ist, dass Eltern ihr eigenes oder ein anderes Kind und dessen Interaktionen mit der Lehrkraft beobachten. [www.fisch-online.info]
Eine Familienklasse, an der acht bis zehn Familien gleichzeitig teilnehmen können, findet einmal wöchentlich am Vormittag statt, ansonsten besuchen die Kinder ihre Regel-, Förder- oder (→) Klinikschule. Sie setzt sich aus Kindern verschiedener Klassen und Jahrgängen zusammen, wobei mindestens ein Elternteil bzw. älteres Familienmitglied in der Familienklasse anwesend sein soll. Es findet ein regelmäßiger Austausch mit der zugeordneten, kooperativen Schule statt. Die Teilnahme an einer Familienklasse dauert in der Regel etwa drei bis sechs Monate. Die Eltern erhalten Einblick in das Verhalten des Kindes, wie sich diese selbst im Wege stehen, aber auch, was sie schon können. Und die Eltern erhalten eine Rückmeldung über ihre Verhaltensweisen sowie über Handlungsmöglichkeiten in der Schule. Sie können sich mit anderen Eltern austauschen und erleben sich nicht mehr als Außenseiter. Sie sollen aber auch Anregungen erhalten, wie sie mit ihren Kindern im Alltag anders umgehen können. [Castello et al. 2016]
Der Tagesablauf einer Familienklasse gliedert sich in mehrere Phasen. Zunächst noch getrennt, erfolgt in der Morgenrunde der Kinder, die eine Lehrkraft leitet, und in der Elternrunde, die ein Coach moderiert, jeweils ein Austausch über Wochenerlebnisse und die Festlegung von Arbeitszielen für den Tag. Dann bearbeiten die Schülerinnen und Schüler, mit oder ohne direkte Unterstützung der anwesenden Eltern, schulische Themen. Zumeist ist es eine Unterrichtsstunde im Fach Deutsch und eine zweite in Mathematik. Die Kinder beschäftigen sich individuell mit den Lernthemen, bei inhaltlichen Fragen stehen die Lehrkräfte zur Verfügung. Sind Eltern mit den emotionalen Problemen ihrer Kinder überfordert, können sie sich mit dem Coach oder den anderen Eltern in einem Nebenraum austauschen. Nach dem Unterricht trifft sich die Gruppe im Plenum, das mit einem Interview beginnt. Dazu findet sich jedes Kind mit einem anderen Elternteil zusammen – das wird „Elterntausch“ genannt; dies ist besonders hilfreich, wenn es im Unterricht zu Konflikten zwischen dem Elternteil und dem Kind gekommen ist. Dann erfolgt im Multifamilienplenum ein abschließender Austausch. [Behme-Matthiessen et al. 2012]
In der Familienschule sind die Familienmitglieder bis zu vier Tage pro Woche in einem Stadtteil- oder Familienzentrum anwesend, in dem der Unterricht der Kinder stattfindet. Diese Form gibt es bislang nur in Großbritannien. Eine „Family School“ arbeitet mit ca. 35 Kindern und Jugendlichen und deren sie begleitenden Erwachsenen, in der Regel ein Elternteil, es können aber auch Großeltern, Tanten oder ein erwachsener Geschwisterteil sein. Die durchschnittliche Verweildauer ist in der Regel sechs bis neun Monate. Das Kind ist somit über einen längeren Zeitraum am Vormittag nicht oder nur kaum an seiner Stammschule, der Unterricht orientiert sich indes an den Themen der Heimatschule. Da in England der Unterricht überwiegend in Ganztagsform erfolgt, ist das Kind jedoch am Nachmittag an seiner Schule und verliert somit nicht den Kontakt. Zugleich schafft es dem Kind jedoch einen Freiraum, um unabhängig vom Schulalltag an sich zu arbeiten. Ein entscheidendes Merkmal einer Familienschule ist die enge Zusammenarbeit zwischen dem Mitarbeiter bzw. der Mitarbeiterin von Marlborough, die aus der Familientherapie, Klinischen Psychologie oder Sozialarbeit sein können, und einer Lehrkraft der Schule. Die beiden treffen sich im Team, um die Zusammenarbeit zwischen Schule und Familienzentrum zu konzipieren, zu koordinieren und zu gestalten. Wichtig ist es auch, in Lehrerkonferenzen regelmäßig die Erfahrungen zu reflektieren und die Arbeit in die Weiterentwicklung der (Stamm-)Schule aufzunehmen [Asen et al. 2001; McHugh/Dawson 2012].
Asen, Eia; Dawson, Neil; McHugh, Brenda (2001): Multiple family therapy: The Marlborough Model and its wider applications. London: Karnac Books. – Behme-Matthiessen, Ulrike; Pletsch, Thomas (Hrsg.) (2012): Handbuch Familienklasse: Multifamiliencoaching im Unterricht. Aachen: Shaker Verlag. – Castello, Armin, Bierkandt, Susanne; Suchy, Johanna (2016): Familienklassen: Schulische Interventionen im Multifamiliensetting. Zeitschrift für Heilpädagogik, 67, 227-233. – McHugh, Brenda; Dawson, Neill (2012): Multifamiliengruppen in Schulen nach dem Marlborough Modell. In: Behme-Matthiesen et al. (Hrsg.): Handbuch Familienklasse: Multifamiliencoaching im Unterricht. Aachen: Shaker Verlag, 149-160. – Hviid, Kirsten S.; Andersen, Claus Bonde; Kaldan, Tryggvi; Berliner, Peter (2006): Familienklasser i Helsingør. In: Psyke & Logos, 27, 749-766.