Forensikschulen

Die Bildungseinrichtungen im Maßregelvollzug werden als Forensikschulen bezeichnet. Gerichte können von der Verhängung einer Strafe absehen, beispielsweise wenn Täterinnen und Täter nicht bzw. eingeschränkt schuldfähig sind. Stattdessen werden dann jedoch oftmals strafrichterliche Maßregeln angeordnet, die der „Besserung und Sicherung“ (§ 61 StGB) dienen. Hierzu zählen der Entzug der Fahrerlaubnis oder Berufsverbot, insbesondere jedoch freiheitsentziehende Maßnahmen in Form der Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus, wenn erwartet wird, dass die Täterinnen und Täter weitere Straftaten begehen könnten, in eine Entziehungsanstalt, wenn eine Straftat auf Alkohol- oder Drogeneinfluss zurückgeführt wird oder weitere Straftaten durch die Suchtmittelabhängigkeit erwartet werden, sowie Sicherungsverwahrung, beispielsweise bei schweren Sexualdelikten (§§ 63-66 StGB). Auch für Jugendliche kann der Maßregelvollzug angeordnet werden (§ 7 JGG). Die forensisch-psychiatrischen Kliniken bzw. Klinikabteilungen ähneln in ihrer Anlage den Gefängnissen. Die dort untergebrachten Menschen verbringen alle Bereiche ihres Lebens in den Anstaltsgebäuden. Sie befinden sich in Zwangsgemeinschaften mit anderen, die genauso von der Umwelt abgeschnitten sind. Sie müssen die Regeln der Anstalt einhalten, somit werden sie hart sanktioniert. [Müller-Isberner 2009; Volckart/Grünebaum 2009; Schalast 2013]

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Die Schulen im Maßregelvollzug bzw. in der Forensik haben im Fachdiskurs der Psychiatrie und erst recht in der Erziehungswissenschaft nur eine marginale Position. Bildungsarbeit in der Forensik ist den besonderen Erfordernissen des Maßregelvollzugs nachgeordnet. Die Einrichtungen der forensischen Psychiatrie werden von Ärztinnen und Ärzten geleitet, die auch die weisungsbefugten Vorgesetzten für die Lehrkräfte sind. Zugleich ist die Bildungsarbeit auf die Therapie bezogen, weil sie neben der Vermittlung von schulischem und abschlussorientiertem Wissen insbesondere einen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung vor kriminalpräventivem Hintergrund leisten soll. Die kriminalpräventive Wirkung von Bildungsarbeit ist empirisch jedoch nicht hinreichend belegt, ausgearbeitete forensisch-pädagogische Konzepte fehlen. Wie in der (→) Gefängnisschule oder der (→) Schule in der Psychiatrie geht es auch in der Schule der Forensik um eine generelle Verbesserung der Resozialisierungsmöglichkeiten durch den Erwerb eines Schulabschlusses und/oder eine Berufsausbildung. Außerdem soll durch den Unterricht der therapeutische Prozess positiv beeinflusst werden. [Müller-Isberner/Eucker 2009]

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Die pädagogische Arbeit soll die Mitarbeit und das Verantwortungsbewusstsein der untergebrachten Person wecken und fördern sowie auf eine selbständige Lebensführung vorbereiten. Dazu gehört auch die familiäre, soziale und berufliche Eingliederung. Untergebrachten Personen ohne Schulabschluss soll Unterricht in den zum Schulabschluss führenden Fächern erteilt werden, denen mit Schulabschluss ist die Gelegenheit zum Erwerb eines weiterführenden Schulabschlusses zu ermöglichen, bei der beruflichen Fortbildung oder Umschulung ist berufsbildender Unterricht anzubieten. Als Soll-Bestimmung ist Unterricht für den Erwerb eines ersten allgemeinbildenden Schulabschlusses gesetzlich verankert. Unterricht für einen weiterführenden Schulabschluss ist hingegen als Kann-Bestimmung genannt. [Leygraf 1988]

In der Forsenikschule ist die Bildungsnachfrage in ganz Deutschland weitaus höher als das bestehende Unterrichtsangebot. Die Belegungszahlen im Maßregelvollzug sind in den letzten Jahren stark angestiegen und damit auch der Grundbildungsbedarf von Patientinnen und Patienten. Die Bildungsangebote und die Unterrichtspraxis bleiben allerdings weit hinter den etablierten Standards im Justizvollzug zurück. Das liegt u.a. daran, dass es nur in wenigen Bundesländern überhaupt eine gesetzliche Verankerung von schulischer und beruflicher Bildung in der Forensik gibt. Für Arbeitsleistungen in der Forensik erhält die untergebrachte Person ein Arbeitsentgelt. Übt sie aus therapeutischen Gründen eine sonstige Beschäftigung aus oder nimmt sie an einer heilpädagogischen Förderung, am Unterricht oder an Maßnahmen der Berufsausbildung, der beruflichen Fortbildung oder Umschulung teil, so kann ihr eine Zuwendung gewährt werden. Während aber in der Arbeitstherapie pro Einheit (eine halbe Stunde) 65 Cent bezahlt wird, gibt es in der Schule dafür lediglich 60 Cent. [Weber 2014; Zetsche 2020]

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Die Anmeldung zum Unterricht erfolgt nicht durch die Untergebrachten selbst, sondern durch das Personal auf den Stationen, das dadurch auch eine Auswahl trifft, wer teilnehmen darf; die Kriterien dafür sind nicht immer transparent. Im Maßregelvollzug fehlt es in Deutschland an Lehrkräften, nur etwa die Hälfte der in der Forensikschule Tätigen, hat überhaupt eine Lehramtsausbildung. Es gibt zahlreiche Vorschläge zur Verbesserung der Situation in der Schule der Forensik: bessere Sachausstattung, Lehr- und Lernmaterialien für Grundbildungs- und Deutsch-als-Zweitsprache-Unterricht, Computerausstattung und Zugang zu digitalen Unterrichtsmedien, auf die Bildungsbedarfe der Lernenden zugeschnittene Fortbildungen für die Lehrkräfte.

Daraus ergibt sich in Bezug auf Bildungsteilhabe eine erhebliche Schlechterstellung von Personen, die im Maßregelvollzug untergebracht sind gegenüber denjenigen im Justizvollzug. „Nur wenn von der Maßregeleinrichtung ein ausreichendes Angebot an schulischen Hilfen organisiert zur Verfügung gestellt wird, das nicht nur für einen kleinen Teil der förderungswilligen Patienten geeignet ist, sind Einzelentscheidungen über die Teilnahme am Schulunterricht nicht von vornherein rechtsfehlerhaft“ [Marschner 2010, 173]

Aufgrund oftmals unvollständiger Schulkarrieren und prekärer Bildungsbiografien der Patientinnen und Patienten ist ein hoher Bedarf an Alphabetisierung und Grundbildung erforderlich. Mehrheitlich haben sie keine abgeschlossene Berufsausbildung, auch berufliche Erfahrungen liegen häufig nicht vor. Studien belegen, dass die Teilnehmenden in der Schule der Forensik sehr bildungsmotiviert sind und sie zumeist klare Bildungsziele formulieren. Andererseits ist der Altersdurchschnitt in der Forensik mit etwa 50 Jahren hoch, was die Chancen auf eine Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt nach der Entlassung sehr erschwert. Auch Krankheitsdiagnosen begrenzen die (Wieder-)Eingliederung in das Beschäftigungssystem. Anders als die Gefängnisschulen haben die Forensikschulen zumeist keine eigenen Werkstätten, sondern sie bieten lediglich Arbeitsgelegenheiten, sodass es strukturell schwierig ist, berufliche Kompetenzen ausbilden zu können [Hennicke 1999; Zetsche 2014, 2020; Lasthaus 2011; Weber 2014; www.lerneninderforensik.de]

Hennicke, Angelika (1999): Schulische und berufliche Bildung von Patienten in der forensischen Psychiatrie. In: Recht und Psychiatrie 17, 65-69. – Lasthaus, Michael (2011): Lernen hinter Mauern und Gittern. Alphabetisierung in der Forensik. In: Psychologie & Gesellschaftskritik 35 (3), 79-92. – Leygraf, Norbert (1988): Psychisch kranke Straftäter. Epidemiologie und aktuelle Praxis des psychiatrischen Maßregelvollzugs. Berlin: Springer. – Marschner, Rolf (2010): Rehabilitation. In: Kammeier, Heinz (Hrsg.): Maßregelvollzugsrecht. Berlin: de Gruyter, 165-185. – Müller-Isberner, Rüdiger; Eucker, Sabine (2009): Therapie im Maßregelvollzug. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. – Schalast, Norbert (2013): Die Dauer der Unterbringung in der Entziehungsanstalt. In: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 7, 105-113. – Volckart, Bernd; Grünebaum, Rolf (2009): Maßregelvollzug. Das Recht des Vollzugs der Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt. Köln: Carl Heymanns Verlag – Weber, Martina (2014): Bildung hinter Mauern. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 83 (2), 98-110. – Zetsche, Oliver Tobias (2014): Der schulische und berufliche Werdegang von psychisch kranken Straftätern in Sachsen: Eine Studie zur pädagogischen Betreuung von Patienten des Maßregelvollzugs. Hamburg: disserta Verlag. Zetsche, Oliver Tobias (2020): Zur Notwendigkeit von Bildungsangeboten im Maßregelvollzug. Pädagogische Hilfsmaßnahmen in der Forensischen Psychiatrie. Wiesbaden: Springer VS.