Gefängnisschulen

Die erste Erziehungseinrichtung für Kinder und Jugendliche, die gegen Strafnormen verstoßen hatten, wurde mit dem „Tuichthaus“ 1595 in Amsterdam geschaffen. Rasch folgte der Bau weiterer Zuchthäuser in etlichen norddeutschen Städten (Bremen, Lübeck, Hamburg). Männer, Frauen und Kinder wurden gemeinsam gefangen gehalten, allerdings gab es separierte Gefängnisse für straffällige Söhne wohlhabender Familien. In den Haftanstalten drohten den jungen Delinquenten sehr harte Strafen, in einzelnen Fällen kam es zu Hinrichtungen. Später wurde insbesondere unter dem Einfluss eines religiös-reformatorischen Besserungsgedankens ein Arbeits- und Erziehungsansatz entwickelt und die Haft als eine Zeit für nachholende Sozialisation konzipiert. Ende des 18. Jahrhunderts wurden nach und nach die Körperstrafen (Peitschenhiebe, Folter, Hinrichtung) abgeschafft und das Gefängnis in seiner heutigen Form entwickelt. [Foucault 1976; Hofmann 1967; Myschker 1999]

Die in den Strafanstalten beschäftigten Lehrkräfte waren zunächst von der Kirche angestellt und dem Gefängnisgeistlichen untergeordnet. Ende des 19. Jahrhunderts wurden sie zu staatlichen Bediensteten, sollten jedoch vor allem eine religiöse Orientierung, geistige Förderung und sittliche Besserung leisten. Im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 wurde eine Strafunmündigkeit für Kinder bis zum zwölften Lebensjahr (heute bis zum vierzehnten) sowie eine bedingte Strafmündigkeit bis zum siebzehnten Lebensjahr (aktuell achtzehn) festgelegt und eine Trennung zwischen dem Jugend- und Erwachsenenstrafvollzug sowie des Männer- und Frauenvollzugs vorgenommen. Der Unterricht orientierte sich nun an dem der Pflichtschule, neben Religionslehre kamen die Elementar- und Realienfächer hinzu. Mit dem Reichsjugendgerichtsgesetz von 1923 wurde der schulische Unterricht als Grundlage des Erziehungsvollzugs obligatorisch festgeschrieben, denn man unterstellte einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Mangel an Bildung und der Kriminalität junger Menschen. Die ersten zukunftsweisenden Gefängnisschulen für Jugendliche wurden in Hahnöfersand bei Hamburg, Berlin-Moabit und Wittlich/Mosel eingerichtet. [Eberle 2001

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Die Bundesrepublik hatte sich 1953 im Jugendgerichtsgesetz (JGG) für einen Erziehungsstrafvollzug entschieden und 1977 im Strafvollzugsgesetz (StVollzG) der Bildung eine große Bedeutung hinsichtlich ihrer resozialisierenden Wirkungen zugeschrieben. Seitdem wurden die Gefängnisschulen systematisch ausgebaut, und der allgemeinbildende sowie vor allem der berufsbezogene Unterricht sind zu einem unverzichtbaren Bestandteil der individuellen Vollzugs- und Resozialisierungspläne geworden. Auch inhaftierte Jugendliche sind schulpflichtig und müssen deshalb unterrichtlich versorgt werden, andere wollen die Haftstrafe nutzen, um sich eine berufliche Perspektive für die Zeit nach der Entlassung zu erarbeiten. Die dramatische Überrepräsentation von inhaftierten Jugendlichen ohne einen Schul- oder Berufsabschluss erschwert jedoch eine Vorbereitung auf den Übergang in das Beschäftigungssystem. Und auch der Strafmakel, also der Eintrag der Verurteilung in das Bundeszentralregister bzw. Führungszeugnis, beeinträchtigt die Suche nach Ausbildungs- oder Arbeitsplätzen erheblich. [Wagner 2019]

Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts werden die ‚geschlossenen‘ Einrichtungen, insbesondere solche für Jugendliche, von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen kritisiert, und es bildet sich eine sozialpolitische Bewegung zur Humanisierung solcher Erziehungs-, Betreuungs- und Bildungsinstitutionen heraus. Seit den 1970er Jahren gibt es zahlreiche Versuche, in diesen ‚Anstalten‘ das reglementierte Leben der Betroffenen zu normalisieren, d.h. selbstbestimmte Lebensbedingungen und möglichst ‚alltägliche‘ Lebensverhältnisse zu schaffen: Der Wohngruppenvollzug hat Eingang in die Anstalt gefunden. Die Außenweltkontakte sind teils intensiviert, teils stärker ausdifferenziert worden. Soziales Training, das zu einem angemessenen Umgang mit Alltags- und Lebensproblemen befähigen soll, hat im Vollzug Platz gegriffen. Kulturelle Freizeitangebote bis hin zum Sport wurden ausgeweitet. Trotz solcher Reformbemühungen wirken die Strukturen in den Schulen des Jugendstrafvollzugs überwiegend fremdbestimmend und ‚zwanghaft‘ sowohl auf die Inhaftierten als auch auf das dort tätige (pädagogische) Personal. [Müller-Dietz 2005]

Die Gefängnisschule sollte, so ein Vorschlag der Kultusministerkonferenz in den 1960er Jahren, eine unterrichtliche Einrichtung im Sinne einer ‚Berufsschule von betont heilpädagogischer Prägung’ werden. Dieser Gedanke wurde jedoch nie umgesetzt.

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Vielmehr sind die Schulen im Strafvollzug den Justizbehörden unterstellt, die Kultusbehörden wirken unterstützend bei der Organisation des Unterrichts sowie bei den Prüfungen mit (externe Schulabschlüsse). Auch für die meisten Lehrkräfte bedeutet der Eintritt in den Justizvollzug, vom Kultus- in den Bereich des Justizministeriums zu wechseln. Sie arbeiten innerhalb der geltenden Vorschriften und Regelungen der Vollzugsanstalten bzw. sie stehen unter einer fachfremden Dienstaufsicht. Das pädagogische Handeln wird ebenso dadurch beeinträchtigt, dass Lehrkräfte im Gefängnis die Aufgabe haben, sich an der Herstellung von Sicherheit und Ordnung zu beteiligen. Kritisch wird auch immer wieder darauf hingewiesen, dass es keine systematische Vorbereitung und Qualifizierung für den Unterricht im Gefängnis gebe, die Lehrkräfte würden lediglich zufällig und situativ im Vollzug eingearbeitet und sie könnten auf ein allenfalls bescheidenes Fortbildungsangebot zurückgreifen. Es gibt kein eigenständiges Lehramtsstudium für eine schulische Vollzugspädagogik und nur wenige berufsbegleitende Weiterbildungen für Gefängnislehrkräfte. [Myschker 1999; Rheinheckel 2007; Wagner/Weber 2016]

Mit der Föderalismusreform 2006 wurde der Jugendstrafvollzug in die Zuständigkeit der Länder überführt, so dass eine bundeseinheitliche gesetzliche Regelung auf absehbare Zeit nicht vorhanden sein wird und von einer flächendeckend gültigen Vollzugspädagogik weiterhin keine Rede sein kann. Es gibt jetzt sechzehn verschiedene Jugendstrafvollzugsgesetze, die sich zwar nicht grundsätzlich, aber im Detail doch unterscheiden. Gleichwohl blieb die Zielsetzung bestimmend, dass die pädagogische Arbeit im Strafvollzug die Gefangenen zu selbstständiger und straffreier Lebensführung befähigen solle, was ohne eine ausreichende Beherrschung von Kulturtechniken und ohne eine Vorbereitung auf Erwerbsarbeit kaum denkbar ist. Deshalb soll möglichst allen Inhaftierten, die von ihren Voraussetzungen dazu in der Lage sind, ein schulisches und berufliches Bildungsangebot während der Haftzeit unterbreitet werden. Die Gefängnisschule gibt es in allen sechzehn Bundesländern. [DVJJ 2007]

Fachwerkgebäude eines Gefängnisschul-Standorts in bewaldeter Hanglage; vor dem umzäunten Areal verläuft eine Landstraße mit geparkten Autos.

Seehaus Leonberg [Foto: Schroeder, 2011]

Gesetzlich sind drei verschiedene Formen vorgesehen, in denen der Jugendstrafvollzug durchgeführt werden kann: Der geschlossene Vollzug wird in Deutschland am häufigsten angewandt. Die Haftzeit ist unter Verschluss in einem Gefängnis abzusitzen. Im offenen Vollzug können die Inhaftierten tagsüber, an Wochenenden oder auch über längere Zeit die Strafanstalt verlassen, um ‚draußen‘ einer Arbeit nachzugehen, eine Schule zu besuchen oder bei der Familie zu sein. Um das angestrebte Erziehungsziel zu erreichen, kann der Vollzug auch in weitgehend freien Formen durchgeführt werden (§ 91 Abs. 3 JGG). Jugendlichen Straftätern wird dann erlaubt, ihre Haft statt in einer Jugendstrafanstalt beispielsweise in einer Einrichtung der Jugendhilfe zu verbüßen, die nicht der Justiz angehört – darin liegt der entscheidende Unterschied zum geschlossenen und offenen Vollzug, den die Strafanstalt verantwortet.

In Anwendung dieser Bestimmung war beispielsweise ab 1953 in der Justizvollzugsanstalt Falkenrott bei Vechta ein Lager mit einer Schule für junge Straftäter eingerichtet worden, das weder Zäune noch Mauern hatte. Seit 2000 wird in der Bundesrepublik der Vollzug in freien Formen an verschiedenen Standorten erprobt: In Baden-Württemberg wurden zwei konzeptionell unterschiedliche Einrichtungen im „Kloster Frauental“ in Creglingen (Gruppenansatz, Peer Education) und im „Jugendhof Seehaus“ (Familienansatz, Hauselternprinzip) bei Leonberg geschaffen, die indes beide vom Christlichen Jugenddorfwerk als Dienstleister betrieben werden. In Großpösna-Störmthal wurde 2011 das „Seehaus Sachsen“ eröffnet, das sich an die Leonberger Konzeption anlehnt. In diesen baulich offenen Einrichtungen steht insbesondere die berufliche Eingliederung im Vordergrund. Die Modellprojekte richten sich schwerpunktmäßig an vierzehn- bis siebzehnjährige männliche Jugendliche, die zu einer Jugendstrafe verurteilt sind. Die Aufenthaltsdauer orientiert sich am Strafmaß und liegt zwischen zwölf und achtzehn Monaten. Täter, die vorsätzlich getötet haben, solche mit erheblichen Persönlichkeitsproblemen (z.B. Sexualstraftäter) sowie akut drogenabhängige Jugendliche werden nicht aufgenommen, ebenso wenig solche, bei denen eine Fluchtgefahr besteht. [Bulczak 1988; Moriè 2004; Walter 2004; Schumann 2005; Lindrath 2010; Heinz 2019]

Bulczak, Gerhard (1988): Jugendanstalten. In: Schwind, Hans Dieter; Blau, Günter (Hrsg.): Strafvollzug in der Praxis. Berlin: Gruyter, 109-121. – DVJJ (2007) – Deutsche Vereinigung der Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V.: Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes (JGGÄndG). Stellungnahme zum Referentenentwurf des BMJ vom 13. April 2007. www.dvji.de – Eberle, Hans-Jürgen (2001): Didaktische Grundprobleme der Bildungsarbeit im Justizvollzug. In: Bundesarbeitsgemeinschaft der Lehrer im Justizvollzug (Hrsg.): Justizvollzug & Pädagogik. Tradition und Herausforderung. Herbolzheim: Centaurus, 27-46. – Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/Main: Suhrkamp. – Heinz, Theresa (2019): Jugendstrafvollzug in freien Formen – Möglichkeiten und Grenzen. Bachelorarbeit an der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege (FH) des Freistaates Sachsen. – Hofmann, Theodor (1967): Jugend im Gefängnis. Pädagogische Untersuchungen über den Strafvollzug an Jugendlichen. München: Piper. – Lindrath, Anja (2010): Jugendstrafvollzug in freien Formen. Rechtsgrundlagen und Erziehungsstandards. Berlin: LIT. – Moriè, Rolf A. (2004): Der Jugendhof Seehaus bei Leonberg – ein Modellprojekt für straffällige Jugendliche in freien Formen. In: DVJJ Landesgruppe Baden-Württemberg (Hrsg.): Neue Wege im Umgang mit Jugendkriminalität. Heidelberg: DVJJ, 128-141. – Müller-Dietz, Heinz (2005): Die Entwicklung des deutschen Strafvollzugs von 1951 bis 2004. In: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 54 (2005) 1, 13-18. – Myschker, Norbert (1999): Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Erscheinungsformen, Ursachen, Hilfreiche Maßnahmen. Stuttgart: Kohlhammer. – Rheinheckel, Sabine (2007): Unterricht im Jugendstrafvollzug – Anspruch und Wirklichkeit. In: Rumpler, Franz; Wachtel, Peter (Hrsg.): Erziehung und Unterricht – Visionen und Wirklichkeit. Würzburg: VDS, 365-368. – Schumann, Susanne von (2005): (K)eine Chance in unserer Gesellschaft? Jugendhof Seehaus. Eine Alternative zum Strafvollzug. In: De Ignis 2005, 16-28. – Wagner, Uta (2019): Übergänge hinter Gittern – Übergangserfahrungen junger Menschen von Haft in Freiheit im Spiegel institutioneller Bedingungen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa. – Wagner, Uta; Weber, Martina (2016): Grundbildung im Strafvollzug. Unsichere Mindestversorgung und flexible Problemlösestrategien. In: Gag, Maren; Grotheer, Angela; Schroeder, Joachim; Wagner, Uta & Weber, Martina (Hrsg.):  Berichte aus den Randbezirken der Erwachsenenbildung. Eine empirische Analyse der Hamburger Grundbildungslandschaft. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag, 117-133. – Walter, Joachim (2004): Das Projekt Chance aus der Sicht der Jugendvollzugsanstalt Adelsheim. In: DVJJ Landesgruppe Baden-Württemberg (Hrsg.): Neue Wege im Umgang mit Jugendkriminalität. Heidelberg: DVJJ, 63-80.