Gemeinwesenschulen
Sozialraumorientierte Schulen richten sich konzeptionell vor allem an ihrem lokalen Wohnumfeld aus. Gemeinwesenarbeit ist ein Ansatz, der nicht sozialtherapeutisch an einzelne Individuen adressiert ist, sondern der sich sozialpolitisch auf den Sozialraum richtet, um in diesem die Lebensverhältnisse zu verändern. Es geht darum, die Handlungsmöglichkeiten der Bewohnerinnen und Bewohner zu erweitern und diese zur Selbstorganisation zu befähigen. Die ersten „Community schools“ wurden Ende des 19. Jahrhunderts in einigen Großstädten der USA gegründet. Dort waren durch Landflucht und Immigration sozial vernachlässigte „Settlements“ entstanden, oftmals durch „illegale“ Landbesetzung, sodass es zunächst keine staatlich finanzierte Infrastruktur für die Gesundheitsversorgung oder Bildung gab. Typisch für die Gemeinwesenarbeit ist überdies ein intergenerationeller Ansatz, d.h. nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene sollen die unterschiedlichsten formalen und non-formalen Bildungsangebote nachfragen können. Das Ende des 19. Jahrhunderts von Jane Addams in Chicago aufgebaute „Hull House“, ein nachbarschaftsorientiertes Zentrum der Zusammenkunft und des Lernens, wird in der Fachliteratur oftmals als Prototyp genannt. [Buhren 1997; Staub-Bernasconi 2007; Stövesand et al. 2013]
Gemeinwesen werden als von den Bewohnerinnen und Bewohnern geteilte räumliche Erfahrungskontexte kollektiv erlittener Benachteiligungen verstanden, in denen es gemeinschaftliche Bestrebungen zur Veränderung der sozialen Verhältnisse gibt. Es sind die sozialen Erfahrungsräume der vielfältigen Gestalten einer „Kultur der Armut“, in der Ort, Subjekt und Lebenspraxis eine wechselseitig aufeinander bezogene Einheit darstellen, und daraus ein soziales Lernen an gemeinsamen Problemen entstehen kann. An diese geäußerten Interessen der Wohnbevölkerung knüpft soziale Bildungsarbeit an, sieht die Bewohnerinnen und Bewohner eines Quartiers als tätige Subjekte, die unter schwierigen Lebensbedingungen versuchen, das Beste für sich daraus zu machen. Im Ansatz „vom Fall zum Feld“ geht es nicht darum, diese Menschen in irgendeiner Form zu „bessern“, sondern ihre Lebensbedingungen zu verändern und neue Ressourcen zu schaffen sowie Eigeninitiative und Selbsthilfe zu unterstützen. [Lewis 1964; Goetze 1992; Hinte et al. 1999; Richter 2008]
In Deutschland wurde das Konzept in den späten 1960er Jahren häufiger aufgegriffen. Zu dieser Zeit gab es noch viele Obdachlosensiedlungen an den Rändern auch von Mittel- und Kleinstädten, nicht immer mit fließend Wasser und oft mit Außentoiletten. In diesen Barackenlagern waren Familien, häufig mit vielen Kindern, untergebracht worden, weil sie ihre Wohnungen verloren hatten. In Anknüpfung an die „Slumpädagogik“ in den USA, die sich vor allem in den großstädtischen „Ghettos“ entwickelt hatte, und der „Barriopädagogik“ in Lateinamerika, wo ebenfalls sehr viele Wohnsiedlungen durch Landbesetzung entstanden sind, versuchte man in den Obdachlosenunterkünften durch Aktivierung der Bewohnerinnen und Bewohner, mit Sozialarbeit und Vorschulerziehung, Schülerhilfen, Kinder- und Jugendgruppen sowie Jugendberufshilfe die Bildungsbenachteiligungen auszugleichen. [Aich/Bujard 1972; betrifft erziehung 1974; Iben 1981]
Aus den eingeschossigen Barackenlagern wurden dann in den 1970er Jahren im Zuge des sozialen Wohnungsbaus zumeist vielgeschossige Großsiedlungen, wo tausende sozial-benachteiligte Menschen zusammenwohnen, sich somit Armut konzentriert und deshalb die Gemeinwesenarbeit erneut aufgegriffen werden konnte. Einige dieser Gemeinwesenschulen fanden die Aufmerksamkeit der Presse oder auch der Forschung: Die Bildungsangebote im Marburger Barackenlager [Iben 1968], in den Hamburger Hochhaussiedlungen „Sonnenland“ [Dressel/Wagner 1981] und Kirchdorf-Süd [Behrens 1985], in München-Hasenbergl [Wehnert 1978; Korbmacher 2004], Wiesbaden-Mühlthal [Scherer 1974; Preußer 1989] oder die Kiez-Schule SO 36 in Berlin-Kreuzberg [Bezirksamt Kreuzberg 1982]. In diesen Beispielen wurde die Schule oftmals als Mittelpunkt des Stadtteils oder Quartiers und gleichsam als Motor der sozialen Bildungsarbeit konzipiert.
Ab den 1980er Jahren wurde zunehmend kritisiert, dass die Gemeinwesenschulen in ihren Konzepten das vom Schulsystem beanspruchte Bildungsmonopol unhinterfragt reproduzieren würden. Stattdessen wird dafür plädiert, sozialräumliche Netze territorialer Bildungsagenturen zu schaffen, die außerhalb des Schulsystems verortet sind, die Schulen jedoch strukturell einbinden. Ziel ist die Verstetigung eines kommunalen Gefüges aus Bildungs- und Unterstützungseinrichtungen, das den engen Rahmen des Schulsystems verlässt, um zu einem Bildungssystem zu werden. Die Schule ist nun nicht mehr das institutionalisierte Zentrum der Bildung, sondern sie ist nur noch Teil eines dezentralen Bildungsverbundes in einem umgrenzten Sozialraum. [Guerra 1997; Richter 2008]
Im Anschluss an lebensweltliche Referenztheorien werden in Gemeinwesenschulen die Bildungsgegenstände in ihrer sozialräumlichen Rückbindung erfasst. In Lernfeldern werden auf diese Weise lokal vorfindbare – bevorzugt brisante und kontroverse – Themen reformuliert, die für den örtlichen Sozialraum bedeutsam sind und diesen gleichsam strukturieren: Jugendgewalt, ethnische Konflikte, Gesundheitsversorgung, Müllprobleme. Der Zusammenhang zwischen Raum und Thema verweist somit auf die pädagogischen Dimensionen der „Erfahrung“ und des „Lernens“. Institutionelle Netzwerkstrukturen werden auf das umgebende Gemeinwesen bezogen. Zugleich initiieren, organisieren und gestalten Kirchen, Vereine, Stadtteilzentren, Bildungsträger, Elternschulen mit „aktivierenden Methoden“ non-formale Lernangebote, wie auch die Institutionen des formalen Lernens – Schulen, Einrichtungen der sozialen Arbeit, Berufsbildung – sich in ihren Angeboten für vielfältige Ziel- und Altersgruppen öffnen. Im Hamburger Stadtteil Lurup startete man 2020 mit dem Aufbau einer solchen Community School. [www.lurum.de]
Aich, Prodosh; Bujard, Otker (1972): Soziale Arbeit. Beispiel Obdachlose. Köln: Kiepenheuer & Witsch. – Behrens, Heiko (1985). Kinder im Hochhaus. Ökologische Aspekte und Verwirklichung in der Sonderpädagogik. Dissertation: Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. – betrifft erziehung (1974): Schule ohne Mauern. Slumpädagogik. Heft 3. – Bezirksamt Kreuzberg (1982): Kiezschule für SO 36. Berlin. – Buhren, Claus G. (1997): Community education. Münster: Waxmann. – Dressel, Erhard; Wagner, Dieter (1981): Sonnenland. Wohngebietsbezogene Sozialarbeit in einem Arbeiterviertel. Weinheim/Basel: Juventa. – Goetze, Dieter (1992): „Culture of Poverty“ – eine Spurensuche. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 32: Armut im modernen Wohlfahrtsstaat, 88-103. – Guerra, Luigi (1997): Die erziehende Stadt. In: Becker, Gerold et al. (Hrsg.): Räume bilden. Studien zur pädagogischen Topologie und Topographie. Seelze-Velber: Kallmeyer Verlag, 221-232. – Hinte, Wolfgang; Litges, Gerd; Springer, Werner (1999): Vom Fall zum Feld. Berlin: Edition Sigma. – Iben, Gerd (1968): Kinder am Rande der Gesellschaft. Erziehungs- und Bildungshilfen in Notunterkünften. München: Juventa. – Iben, Gerd (1981): Gemeinwesenarbeit in sozialen Brennpunkten: Aktivierung, Beratung und kooperatives Handeln. München: Juventa-Verlag. – Korbmacher, Susanne (2004): Ghettokids: Immer da sein, wo‘s weh tut. München: Pieper Verlag. – Lewis, Oscar (1964): Die Kinder von Sánchez. Düsseldorf: Econ Verlag. – Preußer, Norbert (1989): Not macht erfinderisch. Überlebensstrategien der Armenbevölkerung in Deutschland. München: AK SPAK. – Richter, Helmut (2008): Kommunalpädagogik. In: Coelen, Thomas; Otto, Hans-Uwe (Hrsg.) (2008): Grundbegriffe Ganztagsbildung. Wiesbaden: VS, 868-877. – Scherer, Hanfried (1974): Stadtteilbezogene Schule in Wiesbaden. In: betrifft erziehung 4, 33-34. – Staub-Bernasconi, Silvia (2007): Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt UTB. – Stövesand, Sabine; Stoik, Christoph; Troxler, Ueli, (Hrsg.) (2013): Handbuch Gemeinwesenarbeit. Traditionen und Positionen, Konzepte und Methoden, Opladen/Berlin/Toronto: Budrich. – Wehnert, Birgit (Hrsg.) (1978): Zur Praxis von Vorschul- und Schularbeit mit Obdachlosenkindern. München: Juventa.