Homeschooling
„Homeschooling ist eine eigenständige Organisationsform der Bildung neben der der Beschulung in Institutionen oder durch einen Hauslehrer. Der Bildungsprozess der Heranwachsenden wird hauptsächlich von den Eltern vorgenommen und organisiert, wohl aber zumeist begleitet von Fernschulen, die Lehr- und Lernmaterialien bereitstellen und die Eltern auch sonst unterstützen“ [Fischer 2009, 84]. Nachdem Deutschland, als einziges Land in der Europäischen Gemeinschaft, das Homeschooling jahrzehntelang strikt verboten hat, wurde diese Beschulungsform plötzlich im Frühjahr 2020 zumindest zeitweise flächendeckend von allen 16 Kultusministerien als schulpolitische Reaktion auf die Covid-19-Pandemie angeordnet und erst im Sommer 2021 wieder aufgehoben. Obwohl es allgemein so genannt wurde, entsprach die Maßnahme dennoch nicht ihrer ursprünglichen erziehungswissenschaftlichen Bedeutung, denn das Pandemie-Homeschooling war eine Beschulung in Verantwortung der Institution Schule, ein (→) Hausunterricht, der aber nicht immer gut funktionierte, weil sich die Präsenzschule nie ernsthaft mit der Didaktik und Methodik der (→) Fernschulen befasst hat und in Deutschland überdies die notwendige Digitalisierung der Schulen und der Familienwohnungen bis dahin sträflich vernachlässigt worden war. Aufgrund dieser Unzulänglichkeiten mussten Eltern, ältere Geschwister, Ehrenamtliche aus der Nachbarschaft oder bereits vorhandene Mentorinnen und Mentoren in hohem Maße als Nachhilfe- und Assistenzlehrkräfte die Bildungsprozesse der Kinder und Jugendlichen unterstützen; somit war es dann doch ein Homeschooling, das aber aus der Not geboren war. [DGfE 2020]
Kinder und Jugendliche werden vor allem aus weltanschaulichen Erwägungen ihrer Eltern zuhause unterrichtet. Es ist eine bewusste Entscheidung gegen das bestehende Schulsystem und deswegen muss man es vom Hausunterricht abgrenzen. Verschiedene religiöse Gruppen, insbesondere evangelikale Christen und orthodoxe Juden, lehnen weniger die Schule, als vielmehr die dort unterrichteten Inhalte ab, z.B. die Evolutionstheorie und andere naturwissenschaftliche Inhalte, Sexualpädagogik oder bestimmte Formen der Werteerziehung. Kritisiert werden die säkularen Schulen, die keine religiöse Bildung vorsehen, aber auch konfessionelle Schulen, die nicht die „richtige“ religiöse Bildung anbieten. Auch bestimmte Methoden, wie z.B. Entspannungsübungen oder Theaterpädagogik werden abgelehnt, manchmal auch koedukativer Sport sowie insgesamt ein wertekritischer und emanzipatorischer Unterricht. Die evangelikale Homeschooling-Bewegung nahm in Deutschland in den 1980er Jahren mit der Gründung der ersten „Hausschule“ in Siegen ihren Ausgangspunkt, später dann in „Philadelphia-Schule“ umbenannt, die die didaktische und methodische Unterstützung der Familien organisiert. Sie ist allerdings nicht als Ersatzschule anerkannt und somit kann die Anmeldung nicht als Erfüllung der Schulpflicht bewertet werden. [Stücher 2004; Spiegler 2008]
Ein zweiter wichtiger Zweig ist die schulkritische Homeschooling-Bewegung, die Begriffe wie Entschulung, Freilerner, Unschoolers verwendet. Die Schule wird als eine das Lernen entfremdende Institution kritisiert, die die Einheit von Lebenswelt und Lernen trennt, die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen übergeht und das Lernen verzweckt, vergesellschaftet und verstaatlicht. Studien könnten belegen, dass die Lernergebnisse der Kinder und Jugendlichen im Homeschooling weitaus besser seien als die in der Schule. In radikaleren Positionen, wie beispielsweise die von John Holt, wird jegliche Form organisierten und strukturierten Lernens abgelehnt, weil die Freiheit des Kindes und seines Lernens in dem Moment ende, wenn es ein – zumal von Erwachsenen – organisiertes Lernfeld betritt. Bei Unschooling findet herkömmlicher Unterricht nicht mehr statt, auch nicht zuhause, sondern das Kind organisiert seine Lernprozesse selbst. Holt unterstellt, dass das Kind von Natur aus lernt und seine Lernthemen und Lernanlässe in seiner Lebenswelt findet. Überdies sei Bildung nicht planbar, insbesondere könne Lernen nicht zukunftsorientiert sein, man könne Kinder nicht auf die Zukunft vorbereiten, da man diese nicht kennt. In Deutschland folgen die Freilerner solchen Ansätzen, die aber zumeist nach Österreich oder in die Schweiz umziehen müssen, weil Homeschooling in Deutschland nicht erlaubt wird. [Holt/Farenga 2003; Neubronner 2008; Sayigh/McDonald 2017]
Eine Studie in den USA stellt für etwa 150.000 Homeschoolers fest, dass 90 Prozent der Familien weiß sind, beide biologischen Eltern zusammenleben, verheiratet sind und akademische Berufe haben. Wie in Europa, ist Homeschooling auch dort eher eine von den vermögenderen sozialen Milieus gewählte Unterrichtsform. [Kraftl 2013]
Die Clonlara School, Ann Arbor, Michigan ist eine der ältesten und größten Einrichtungen, die Familien beim Homescooling unterstützt. Jedem Schüler, jeder Schülerin, wird eine Clonlara-Lernbegleitung zugeteilt, die sehr eng mit dem Kind und der Familie zusammenarbeitet und dabei hilft, Lehrpläne, Ressourcen und Materialien zusammen zu stellen, die den Interessen und Bedürfnissen der Lernenden gerecht werden. Eltern und Lernende dokumentieren die Bildungsaktivitäten, die übermittelten Lernstandsberichte werden von den Lernbegleitern gesichtet und eingeschätzt. Jede Familie erhält ein Handbuch, das einen Überblick über die verschiedenen Lernmethoden, Lernstile, Ressourcen und Herangehensweisen vermittelt und es den Familien erleichtert zu verstehen, was für ein Lerntyp ihr Kind ist. Mit dem Clonlara-Lernbegleiter wird dann zusammen ermittelt, welche Stärken, Interessen, Talente, Bedürfnisse und Ziele der Schüler mitbringt und wie der Lernalltag für jeden einzelnen Schüler individuell gestaltet und optimiert werden kann. Mit diesem Ansatz nähert sich die Clonlara School stark den Konzepten der (→) Fernschulen in Deutschland an.
DGfE (2020) – Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft: Schulbildung auf Distanz – „Beschulung Zuhause“ in Zeiten von Corona. – Fischer, Ralph (2009): Homeschooling in der Bundesrepublik Deutschland. Eine erziehungswissenschaftliche Annäherung. Bonn: Verlag für Kultur und Wissenschaft. – Holt, John; Farenga, Pat (2003): Teach Your Own: The John Holt Book of Homeschooling. Cambridge: Da Capo Lifelong Books. – Kraftl, Peter (2013): Homeschooling. In: ders.: Geographies of Alternative Education. Diverse learning spaces for children and young people. Bristol: Policy Press, 65-68. – Neubronner, Dagmar (2008): Die Freilerner. Unser Leben ohne Schule. Bremen: Genius Verlag. – Sayigh, Sophia; McDonald, Milva (2017): Unschoolers. Arlington: unschoolersbook. – Spiegler, Thomas (2008): Home Education in Deutschland. Hintergründe, Praxis, Entwicklung. Wiesbaden: VS. – Stücher, Helmut (2004): Die Philadelphia-Schule. In: Meyer, Thomas; Schirrmacher, Thomas (Hrsg.): Wenn Kinder zu Hause zur Schule gehen. Nürnberg: VTR, 147-152.