Hüteschule – Hirtenschule

Mitte des 19. Jahrhunderts begann im Deutschen Reich eine bildungspolitische Debatte um die Durchsetzung der Schulpflicht der in der Landwirtschaft arbeitenden Kinder, die insbesondere zum Viehhüten eingesetzt und deshalb Hütekinder genannt wurden. Das Viehhüten war eine erwerbsmäßige Nebenbeschäftigung von Kindern aus armen Familien auf dem Lande. Anders als die (→) Verdingkinder in Süddeutschland, die eine österreichische oder schweizerische Staatsbürgerschaft hatten und deshalb gestritten wurde, ob sie in die württembergische oder bayerische Schulpflicht einbezogen werden müssen, handelt es sich bei den Hütekindern um reichsdeutsche Kinder, für die eine uneingeschränkte Schulpflicht galt. [Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz 1845; Uhlig 1983]

Es gab Hütekinder, die nur am Nachmittag zum Viehhüten eingesetzt wurden und abends wieder zu den Familien gingen. Diese Kinder waren sechs oder sieben Jahre alt. Andere arbeiteten vom Frühjahr bis Herbst auf einem Hof und lebten dort auch. In der Regel waren dies Jungen ab dem neunten Lebensjahr. Es kam auch vor, dass diese Jungen ganzjährig auf dem Hof wohnten und im Winter bei den anfallenden Arbeiten mithalfen. Wenn Mädchen hüteten, so taten sie dies in der Regel auf dem eigenen Hof oder in der Nachbarschaft, aber auch sie wurden manchmal in fremde Höfe gegeben. [Heinecke 1981]

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Goltz berichtet, dass es 1867 in Ostpreußen 12.000 „gesetzlich gemeldete Hütekinder“ gebe, die trotz der Schulpflicht im Sommer fast ohne Unterricht und auch während des Winters kaum zur Schule gehen würden. In Mecklenburg seien Hüteschulen eingerichtet worden, an denen aber nur zwölf Stunden wöchentlich Unterricht stattgefunden habe. „Von 11 und mehr Jahre alten Schülern sind in den verschiedenen Gegenden 10 bis 90 v. H. vom vollen Sommerunterricht befreit. In 383 Schulen mit 6.051 Kindern seien 3.375 Kinder über 11 Jahre ‚dispensiert‘, davon waren 1.483 als Hirten beschäftigt“ [Goltz 1874, 132f]. Ähnliche Klagen gab es fünfzig Jahre später auch zur Lage im Sauerland [Ostendorf 1997, 125] und in der Eifel: „Im verflossenen Jahrhundert besuchten in Gegenden, in denen noch heute Vieh gezüchtet wird und der Hut bedarf, die Kinder nur einige Stunden des Nachmittags im Sommer die Schule, während sie am Vormittag befreit waren für die Hüteschule“ [Wrede 1924, 147]. Im Allgäu konkurrierten die (→) Verdingkinder mit den Hütekindern um die Arbeitsplätze [Laferton 1982].

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Die Hüteschule war weitverbreitet. Aus dem Landkreis Hauland in Schlesien wird berichtet: „Die Hüte- und Sommerschulen waren 1834 eingeführt worden und überhaupt wurde (a) in 7 Schulorten die gewöhnliche Schule mit unverminderten Lehrstunden und Hüteschule (b) in 6 Schulorten gewöhnliche Schule mit verminderten Lehrstunden und Hüteschule (c) in 2 Schulorten nur gewöhnliche Schule (d) in 30 Schulorten nur Hüteschule gehalten“ [www./hauland.de].

Auch im Schwarzwald gab es viele davon, dort wurden sie Hirtenschulen genannt [Heinecke 1981]. „In sogenannten Hirtenschulen unterrichtete man die ortsansässigen Kinder zusammen mit den für die Weidesaison angestellten Hirtenbuben. Hirtenschulen finden sich beispielsweise in Feldberg, Bärental oder Buchenbach. In Münstertal auf dem ‚Stohren‘, einer Hochfläche unterhalb des Schauinslands, begann 1865 der Unterricht in einem eigens dafür errichteten Gebäude. Die Kinder, die während der Saison aus dem Tal, den Nachbargemeinden oder sogar aus nahegelegenen Städten bei Bauernfamilien unterkamen, waren willkommene Arbeitskräfte. Die Hauptarbeit der Buben war das Hüten von Kühen, Rindern und Kälbern auf der Tagweide. Der Unterricht begann morgens um 6 Uhr und dauerte drei bis vier Stunden. Danach mussten die Hirtenkinder auf die Weide, um das Vieh zu beaufsichtigen.“ [www.journals.ub.uni-heidelberg.de]

Zwar wurde immer wieder behauptet, die ‚Hütekinder‘ würden weit weniger beansprucht als die Kinder, die zur Fabrikarbeit herangezogen werden, und es sei allemal gesünder, an der ‚frischen Luft‘ zu arbeiten. Gleichwohl kamen auch diese Kinder körperlich überanstrengt und in ihrer Lernfähigkeit vermutlich beeinträchtigt zum Unterricht. So klagt der Ausschuss für Wohlfahrtspflege auf dem Lande: „Im Winter sind die vom Hütedienst zurückgekehrten und geistig zurückgebliebenen Kinder ein Hemmschuh für die ganze Klasse und eine Schädigung der ganzen Schulthätigkeit des Lehrers“ und fordert die „Beseitigung der Hüteschule“. Hierzu sei gesetzlich die Arbeitszeit einzuschränken, es müsse eine strenge Bestrafung für Versäumnisse der vollen Sommerschule erfolgen und es müssten regelmäßige Berichte der Lehrer an die Behörden geschrieben werden. Zum Ende der Weimarer Republik werden die Hüteschulen abgeschafft. [Sohnrey 1901]

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Im Jahr 2019 wurden in Deutschland durch einen Fernsehbericht die Hirtenschulen in Lesotho bekannt:

In diesem südafrikanischen Land „arbeitet etwa jeder dritte Junge im schulpflichtigen Alter als Hirte – Vollzeit, oft kilometerweit entfernt von der Familie und ohne eine Chance zur Schule zu gehen. Die meisten von ihnen sind Analphabeten – und bleiben es ein Leben lang. Julius Majoro kennt das Problem. Er musste die Schule nach der zweiten Klasse abbrechen, um als Hirte Geld zu verdienen für seine Mutter und die zwei Schwestern. Das ist oft so in Lesotho, meint er. Aber es war nicht das Leben, von dem er geträumt hatte: ‚Ich hatte nie die Absicht als Hirte zu arbeiten. Es waren die Umstände. Wir haben unterhalb der Armutsgrenze gelebt, da hatte ich keine andere Wahl. Der Bauer, für den ich gearbeitet habe, hat mich mies behandelt, wie einen Hund; Essen gab es keines. Wir waren für ihn wie Sklaven.‘ Mit seinem Hirtenlohn sorgt er dafür, dass seine Schwestern zur Schule gehen können und auch deren Kinder. Über Jahre spart Julius kleine Teile seines Lohns so lange, bis er schließlich selbst einen Schulabschluss machen kann. Sein Wissen teilt er jetzt, jeden Abend – mit anderen Hirten von Semonkong. Wenn sie die Tiere versorgt haben, dann kommen sie zu ihm, in seine Hirtenschule. Sie lernen Lesen, Schreiben und Rechnen. Julius unterrichtet sie ehrenamtlich, weil er daran glaubt, dass diese Grundkenntnisse das Leben der Hirten verändern können, wie er sehr gut erklären kann: Am Ende des Tages erzählt ihnen der Bauer sonst: ‚Du hast ja Tiere verloren. Du bekommst keinen Lohn.‘ Und die Hirten wissen noch nicht mal, ob das stimmt oder nicht. Auch Gesundheitskunde steht auf dem Programm: Wie schütze ich mich vor Aids? Eine wichtige Frage in dem Land mit der zweithöchsten HIV-Rate weltweit. Außerdem gibt es hin und wieder ein warmes Essen – immer dann, wenn genug Spenden da sind – für viele Hirten das einzige am Tag. Im Mittelpunkt steht der soziale Gedanke, findet Julius Majoro: ‚Die Arbeit als Hirte ist einsam. Du kümmerst dich um die Tiere und redest nie mit anderen Menschen. Das passiert nur hier in der Hirtenschule. Hier lernen sie mit anderen zu kommunizieren. Hier lernen sie alles.‘ Dafür kommen sie von weit her: Jeremani läuft jeden Abend knapp zehn Kilometer, um die Schulbank zu drücken: ‚Wenn ich gut Lesen und Schreiben kann, dann will ich auch unterrichten. Ich will das, was ich kann, einmal weitergeben‘.“ [Jäschke 2019].

Im Rahmen internationaler Entwicklungskooperation wurde im Norden Kenyas, in der Provinz Marsabit, ebenfalls eine solche Einrichtung geschaffen:

„Die Hirtenschule deckt das Grundbedürfnis nach qualifizierter Bildung. In der Hirtenschule erhalten die Teilnehmer Basisunterricht in Ernährung, Energie, Englisch, Mathematik und anderen notwendigen Lebensgrundlagen. Von Fachkräften geschult werden alle, Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Frauen profitieren in besonderem Maße von dieser Schule, da sie nicht selten die reguläre Schule zu einem frühen Zeitpunkt verlassen müssen. In der Hirtenschule können sie die Inhalte nachholen. Die Hirtenschule soll außerdem allen eine qualifizierte Ausbildung in notwendigen Grundfähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen bieten. Seit 2019 konnten von Fachkräften bereits zahlreiche Basiskurse angeboten werden. Alle Kurse waren gut besucht und schlossen mit einer Zertifizierung und Übergabe der Abschlusszeugnisse ab.“ [www.cs-water4marsabit.com/hirtenschule/]

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (1845): Angelegenheiten der Hüte-Schule – Vorschule. Berlin: I. HA Rep. 76 Seminare, Nr. 12021. – Goltz, Theodor von der (1874): Die ländliche Arbeiterfrage und ihre Lösung. Dresden: Kasemann. – Heinecke, Julia (1981): Zwischen Viehhüten und Hirtenschule. Schwarzwälder Hütekinder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Furtwangen: Geschichts- und Heimatverein. – Jäschke, Joana (2019): Lesotho: Eine Schule für Hirtenjungen. www.daserste.de – Laferton, Siegfried (1982): Hütkinder im Allgäu. In: Allgäuer Geschichtsfreund. Blätter für Heimatforschung und Heimatpflege 82, 16-39. – Ostendorf, Thomas (1997): Brunskappel – Feste und Vereine im Dorf. Münster: Waxmann. – Schmidt, Hubert (1975): Die „Hüteschule“. In: ders.: Chronik der Freiheit Hagen. Sundern: Hölken, S. 183-184. – Sohnrey, Heinrich (1901): Hütekinder. In: Wegweiser für Ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege. Berlin: Deutscher Dorfschriftenverlag. – Uhlig, Otto (1983): Reichsdeutsche Hütekinder. In: ders.: Die Schwabenkinder aus Tirol und Vorarlberg. Stuttgart: Konrad Theiss Verlag, 221-226. – Wrede, Adam (1924): Eifeler Volkskunde. Bonn: Schroeder.