Intensivpädagogik im Ausland

Die „Schule in der Ferne“ ist ein Ansatz, im Rahmen eines Auslandsaufenthalts von Jugendlichen, die Hilfen zur Erziehung erhalten, einen für sie herausfordernden Lernort anzubieten, an dem sie in einem hohem Maße auf sich alleine gestellt sind, ohne dass sie sich selbst überlassen bleiben. Die individuellen Hilfen zur Erziehung im Ausland haben eine gesetzliche Grundlage (§ 27a Abs. 2 und § 78b SGB VIII). Zwar werden Jugendliche auch in Deutschland zeitweise in intensivpädagogischen Settings fremduntergebracht, beispielsweise in einem Bauernhof im Bayerischen Wald, der Lüneburger Heide oder auf einer nordfriesischen Insel (→ Green Care Schools). Doch immer wieder werden auch Möglichkeiten in fast allen europäischen Ländern, in Afrika (Namibia, Malawi und Senegal), in Zentralasien (Kasachstan und Kirgisien) sowie in einigen lateinamerikanischen Staaten (Nicaragua, Paraguay) genutzt.

Die Auslandspädagogik hat ihre Ursprünge in den (→) Erziehungsschiffen, die es aber kaum noch gibt. Als wenig effektiv haben sich Jugendwohngemeinschaften im Ausland erwiesen, in denen zumeist etwa sechs Jugendliche zusammenleben und im Schicht- und Wechseldienst betreut werden, somit die Arbeitsansätze und Alltagsorganisation der inländischen Gruppenhilfen mitsamt ihren erzieherischen Problemen ins Ausland transferiert werden und im Gastland kaum mehr als eine isolierte, deutschsprachige intensivpädagogische Provinz entsteht. Recht wirksam sind hingegen Settings, in denen die Jugendlichen im Gastland bis zu drei Jahre in familienähnliche Strukturen eingebunden sind und die Fremde zu einem sozialen und kulturellen Ort mit wichtigen Sozialisations-, Erziehungs- und Bildungsfunktionen werden kann. [Fischer 2010]

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Die Auslandshilfen werden als Ausnahmehilfe und „letzte Chance“ auf Resozialisierung für solche Heranwachsende in Betracht gezogen, die die Maßnahmen der Jugendhilfe, Jugendpsychiatrie oder Jugendgerichtshilfe erfolglos durchlaufen haben. Auslandshilfen werden nach einem aufwendigen Hilfeplanverfahren verordnet. Die Intensivpädagogik im Ausland wurde indes in den 1980er Jahren in Deutschland auch als Reaktion auf die Krise der Heimerziehung und die massive Kritik an der Geschlossenen Unterbringung von Jugendlichen entwickelt, um mit dieser besonderen Form der Dezentralisierung und Individualisierung der Hilfen spezifische Sozialisationswirkungen zu ermöglichen. Unter dem programmatischen Motto „Woanders neu beginnen“ soll die ruhige und abgeschiedene Lage die Jugendlichen unterstützen, Distanz zu und Ablösung von ihrem zumeist schwierigen Herkunftsmilieu zu gewinnen, um beispielsweise den vorgespurten Wegen in Armut und Kriminalität zu entkommen. Die Jugendlichen gelten als nicht gruppenfähig, deshalb sollen sie in familienähnlichen Settings an eine soziale Gemeinschaft herangeführt werden und wieder Vertrauen in Erwachsene gewinnen, die sie bislang eher als unzuverlässig, gewalttätig und traumatisierend erlebt haben. Frei von alltäglichen Problembelastungen sollen sie die eigene Zukunftsplanung beginnen können. Die aufnehmenden Familien werden von einer Erziehungshilfeeinrichtung vor Ort geschult und betreut. [Witte/Sander 2006; Fischer 2010]

Einerseits geht es auch bei den Erziehungshilfen im Ausland um Beziehungsarbeit, Erlebnispädagogik, Arbeitserziehung und Green Care (intensive Naturerfahrungen, Versorgung und Pflege von Tieren), die jedoch mit einer (inter-)kulturellen Dimension ergänzt werden. In den Gastfamilien spricht in der Regel niemand deutsch und die pädagogische Betreuung vor Ort erfolgt mit Personal, das allenfalls basale Deutschkenntnisse hat. Der Schulunterricht und die Kommunikation in den örtlichen Vereinen erfolgen in der jeweiligen Landessprache, auch die Medien und die gesamte soziale Interaktion im Alltag sind fremdsprachig. Die Jugendlichen sind somit gezwungen, möglichst rasch die fremde Sprache zu erlernen und sich intensiv auf die neue kulturelle Umgebung einzulassen. Kritisiert wird daran, dass dies zugleich zu einer Entfremdung von der deutschen Gesellschaft führe, was erhebliche Probleme bei der Rückkehr aufwerfen könne – die pädagogische Achillesferse des Ansatzes. Die Auswahl des Gastlandes erfolgt gleichsam nach einer Geografie der Erziehungsmilieus: Während ein Aufenthalt in Irland oder Italien noch viele sozio-kulturelle Ähnlichkeiten mit Deutschland hat, sind mit der Kälte in Sibirien oder der Hitze in der Wüste Namibias schon ganz andere klimatische Herausforderungen verbunden, auch der Begriff Abgeschiedenheit nimmt hier zumeist ganz andere Dimensionen an als in Europa. Mit den Gastfamilien erleben die Jugendlichen einerseits eine Lebenswelt, die sie bereits kennen und mit der sie oftmals eher negative Erfahrungen gemacht haben, doch aufgrund der fremden Sprache und der spezifischen kulturellen Rahmung ist das Familiensetting dann doch eher ein (positiv erlebter) Kontrapunkt zum Bekannten. Auch das Verständnis von Erziehung mit ihren Regeln, Normen und Umgangsformen unterscheidet sich nicht nur in sozialen, sondern auch in kulturellen Milieus und schafft einen Alltag, der in dieser Weise neu ist für die Jugendlichen, aber doch, anders als in der pädagogischen Künstlichkeit der Heimerziehung, eine gewisse emotionale und soziale Authentizität bietet. [Heckner 2008a; Wendelin 2011]

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Die Beschulung der Jugendlichen ist eine rechtlich komplexe Angelegenheit, die, wie auch die Unterbringung, Betreuung und Finanzierung der Auslandshilfen, zwischen den Behörden in Deutschland und denen im Gastland geregelt werden muss. Studien zeigen, dass entgegen aller Befürchtungen die Beschulung regelmäßig stattfindet und auch erfolgreich ist, beispielsweise in der Erlangung eines in Deutschland anerkannten Schulabschlusses. Nicht selten besuchen die Jugendlichen die örtliche Regelschule, da sie aber erst einmal die Sprache erlernen müssen, findet die Einschulung oftmals erst verspätet statt. Sehr positiv ist der Besuch der örtlichen Schule hinsichtlich der Integration in die soziale Umgebung. Manchmal wird die Einzelbeschulung im (→) Hausunterricht als Ergänzung kombiniert oder auch als grundlegende Form der Unterrichtung gewählt, fast immer wird dieser dann in deutscher Sprache erteilt.

Ebenfalls in Kombination mit dem Besuch der Auslandschule oder als zusätzliches Angebot insbesondere für die Abschlussvorbereitung versorgen (→) Fernschulen die Jugendlichen. Die deutschen Anbieter gehören alle zu Erziehungshilfeeinrichtungen, haben also Erfahrung mit der Klientel, außerdem kann der Schulabschluss nach dem Tempo und den Möglichkeiten der Jugendlichen abgenommen werden und muss sich nicht nach behördlich vorgegebenen Prüfungsterminen richten. Vor allem in europäischen Ländern gibt es außerdem so genannte Projektschulen, die von den deutschen Jugendhilfeträgern organisiert werden und in denen deutschsprachige Lehrkräfte arbeiten. Hier werden die in der Region bei verschiedenen Familien untergebrachten Jugendlichen zusammen unterrichtet. Untersuchungen belegen, dass es wider Erwarten in den Auslandshilfen nur selten zu Schulverweigerung kommt und insgesamt nur wenige Schulprobleme auftreten. [Heckner 2008b; Wendelin 2011]

Fischer, Torsten (2010):  Intensivpädagogik im Ausland. Aachen: Shaker. – Heckner, Thomas (2008a): Individualpädagogik und soziale Integration. In: Buch-Kremer, Hansjosef; Emmerich, Michaela (Hrsg.) (2008): Individualpädagogik im internationalen Austausch. Hamburg: Verlag Dr. Korvac, 147-184. – Heckner, Thomas (2008b): Die rechtliche Situation der Jugendlichen in Auslandsmaßnahmen in Bezug auf schulische Förderung und der Blick auf die Beteiligten. In: Verein für Kommunikationswissenschaften (Hrsg.): Weder Abenteuerland noch Verbannung. Tagungsdokumentation. Berlin: VfK, 107-111. – Wendelin, Holger (2011): Erziehungshilfen im Ausland: Konzeptionen, Strukturen und die Praxis von intensivpädagogischen Auslandshilfen. Weinheim:  Juventa.Witte, Matthias; Sander, Uwe (Hrsg.) (2006): Intensivpädagogische Auslandsprojekte in der Diskussion. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.