Nachtschulen
Während sich in einer Abendschule Erwachsene nach dem Arbeitstag oder an den Wochenenden um Weiterbildung bemühen, ist die Night School ein Schultyp, der zumeist minderjährigen Schülerinnen und Schülern in allerärmsten Verhältnissen überwiegend Alphabetisierung und Grundbildung bietet. Historische Quellen belegen erste Nachtschulen ab Mitte des 18. Jahrhunderts in den Südstaaten der USA, wo Sklavenkinder nachts lesen und schreiben lernten, was eigentlich verboten war. Berühmt wurde die Nachtschule von Lily Ann Granderson (geboren 1816), die selbst Sklavin war, als Hausmädchen arbeitete und von den Kindern ihrer Dienstherrin nachts beim Lampenschein unterrichtet wurde. Sie flüchtete in die Stadt und eröffnete dort eine Nachtschule für Sklavinnen und Sklaven. Denn aus Angst vor Aufständen und Flucht war es in den Südstaaten verboten, Sklaven zu beschulen. Lily Ann Granderson umging das, indem sie nachts unterrichtete. Versklavte Kinder schlichen in einen geschlossenen Raum in einer Seitengasse, um dort ab 23 oder 24 Uhr zu lernen. Die Klassengröße war auf zwölf Kinder begrenzt. Fenster und Tür waren fest verschlossen und man verwendete in Pech getauchte Kienspäne, um Licht zu haben. Sieben Jahre lang betrieb Granderson die Schule, dann schloss sie sich der American Missionary Association an und unterrichtete bis zu ihrem Tod 1870 weiter aus der Sklaverei entlassene Menschen. [Behrend 2013; Halfmann 2018]
Im Museum of the City of New York hängt eine Fotografie „Night School in the Seventh Avenue Lodging House - run by The Children's Aid Society”. Aufgenommen wurde es 1890 von dem in Dänemark geborenen Fotografen Jacob Riis, der als einer der Begründer der Sozialfotografie gilt (→ Armenschulen). Er interessierte sich vor allem für den Alltag in den Slums der amerikanischen Großstädte, den er in „How the Other Half Lives“ (1890) und „Children of the Poor” (1892) eindrucksvoll dokumentierte. [Yochelson 2001] Das Foto ist in beiden Büchern abgedruckt.
Jacob A. Riis (1849-1914): Night school in the West Side Lodging House – Edward, the little pedlar, caught napping. From his book „The Children of the Poor, 1892, p. 208
[Quelle: Jacob Riis/Corbis Historical via gettyimages; Abdruckgenehmigung erteilt am 25.10.2021]
Das Bild zeigt einen schlafenden Jungen in der ersten Reihe eines Klassenzimmers und mehrere ebenso erschöpft aussehende ältere Jungen, die in Reihen hinter ihm sitzen. ‚Nachtschule im Seventh Avenue Lodging House‘ ist eine aus einer Sammlung von Fotografien von Riis mit dem Titel ‚How the Other Half Lives‘. Die ‚andere Hälfte‘, auf die sich Riis bezieht, sind die armen Bürger von New York, die Einwanderer und die Menschen, die lange Stunden unter gefährlichen Bedingungen für praktisch nicht existierende Löhne arbeiten. Indem sie die schrecklichen Lebensbedingungen der Menschen, die in Mietshäusern lebten, scharf beleuchteten, konnten Riis‘ Fotografien soziale Reformen und neue Wohnungspolitik in New York auslösen.
Die Schüler der ‚Nachtschule‘ sind alle weiß, männlich und jung. Es sind keine Mädchen auf dem Bild, was zeigt, dass der Bildung von Frauen keine große Bedeutung beigemessen wurde. Der jüngste Schüler scheint nicht älter als 10 oder 11 Jahre zu sein und schläft in der ersten Reihe. Er ist der Mittelpunkt des Bildes. Die älteren Jungen hinter ihm wirken hager und verstört. Die Schüler besuchen die Nachtschule, weil sie tagsüber in den Fabriken sind und viele Stunden unter gefährlichen Bedingungen arbeiten. Sie kommen wahrscheinlich aus sehr armen Familien und arbeiten in den Fabriken, um ihre Familien zu unterstützen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die meisten, wenn nicht alle diese Studenten in Mietshäusern leben. Die meisten Mietshäuser in New York entsprachen nicht den Sicherheits- und Hygienestandards der Stadt, und die Studenten lebten wahrscheinlich mit ihren Familien in sehr beengten Verhältnissen. [Kay Davis, 2000-2003, www.xroads.virginia.edu]
Nachtschule in Indien
[Quelle: www.dst.gov.in/solar-digital-night-schools-bring-back-students-formal-education; Reproduktion erlaubt]
Heute gibt es Nachtschulen vor allem in Indien, um den arbeitenden Kindern ein Mindestmaß an schulischer Teilhabe zu ermöglichen. Sie bieten Grundbildung für die Ärmsten der Armen, auch in Nepal, Bhutan, Myanmar und im südostafrikanischen Malawi wird mit dem System gearbeitet. Das wichtigste didaktische Utensil sind Solarlampen, die in den Dörfern zumeist von Frauen hergestellt werden, die selbst nie schreiben und lesen gelernt haben. Von der NGO „Barefootcollege“ wurden 1975 im indischen Bundestaat Rajasthan die drei ersten Nachtschulen eingerichtet, heute sind es 700. In einfachen kleinen Häusern aus Lehm und Stroh sitzen die Kinder, wie auch zuhause, auf dem Boden, Schulmöbel gibt es nicht. Die indischen Regierungen stoppen immer wieder diese Programme, um zu erzwingen, dass die Kinder tagsüber in die staatliche Schule gehen – die es vor Ort aber oftmals gar nicht gibt. Viele Schulen öffnen ab 18 Uhr und die Kinder erhalten erst einmal ein einfaches Abendessen. Zwei Mal im Jahr bekommen Bedürftige neue Kleider, für alle gibt es eine gesundheitliche Grundversorgung. Die Lehrkräfte werden aus Spenden bezahlt, teilweise gibt es inzwischen auch staatliche Mittel. Der Unterricht folgt dem regulären Curriculum, das aber adaptiert wird und an Alltagsthemen orientiert ist. Man versucht mit den Familien Lösungen zu finden, dass die Kinder in die öffentliche Schule gehen oder zurückkehren.
In den ersten Nachtschulen wurde noch ausschließlich mit Büchern, Heften, Tafeln und einfachen Handpuppen gearbeitet. Inzwischen hat das Barefootcollege daraus die Solar Digital Night School entwickelt, in der solarbetriebene Projektoren mit Offline-Servern genutzt werden, die klein, kompakt und mit allen Schulungswerkzeugen ausgestattet sind. Die mobile Edu-Box kann mit vielen Medien (Tablet, Laptop oder Mobiltelefon) kombiniert und sowohl für Online- als auch für Offline-Aktivitäten verwendet werden. Das digitale Klassenzimmer ist einfach zu bedienen und ermöglicht den Lehrkräften viele Einsatzmöglichkeiten, ohne dass sie dafür digitale Erfahrungen oder Schulungen brauchen. Ein Offline-Router mit kuratierten Inhalten ist vorinstalliert, der ein Offline-Internet simuliert, in dem Kinder (sowie Erwachsene aus dem Dorf) surfen können. Die digitalen Hilfsmittel öffnen sich daher für die Verbreitung von Inhalten für diese Gemeinschaften und bieten ihnen einen Zugang zu visuellen Medien und Informationen. [Jeska 2013; www.barefootcollege.org]
Behrend, Justin (2013): Lily Ann Granderson. http://slave-studies.net/narratives/bio_lily_ann_granderson.html – Halfmann, Janet (2018): Midnight Teacher: Lilly Ann Granderson and Her Secret School. Lee & Low Books. – Jeska, Andrea (2013): Lernen unter Sternen. In: „Ubuntu“ – Das Magazin für Kindheit und Kulturen. – Riis, Jacob A. (1971): How the Other Half Lives. New York: Dover Publications (Reprint des Originals von 1890). – Riis, Jacob A. (2018): The Children of the Poor: A Child Welfare Classic. Pittsburgh: TCB Classics (Reprint des Originals von 1892). – Yochelson, Bonnie (2001): Jacob Riis. Berlin: Phaidon.