Non-Self-Governing Territories
Als 1945 die UNO gegründet wurde, lebten rund 750 Millionen Menschen in mehr als 80 Ländern unter der Herrschaft von Kolonialmächten. Heute sind es noch etwa zwei Millionen Personen, die in 17 Territorien ohne politische Selbstverwaltung wohnen: Das sind sieben Inseln in der Karibik, die Falklandinseln und St. Helena im Atlantik, sechs Inselgruppen im Pazifik, Gibraltar im Mittelmeer sowie das mit Abstand größte und bevölkerungsreichste Gebiet: Die Demokratische Arabische Republik Sahara („Westsahara“). Mit Bezug auf verschiedene Artikel der UN-Charta unterstützen die Vereinten Nationen seit 1946 in solchen Non-Self-Governing Territories den Dekolonialisierungsprozess sowie die unabhängige soziale, gesundheitliche und ökonomische Entwicklung und den Aufbau des Bildungswesens. Im Jahr 1960 verabschiedete die UN-Vollversammlung die „Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples“, die das Recht der Völker auf Selbstbestimmung bekräftigte und die Forderung erneuerte, den Kolonialismus so schnell wie möglich zu beenden. Dieses Ziel wurde mit einer weiteren Deklaration 1990 bestärkt, die letzte Erklärung stammt aus dem Jahr 2011. Innerhalb der UNO gibt es ein „Special Committee on Decolonization“ (C-24), das den Dekolonisierungsprozess der 17 Territorien begleitet. [UN 2016]
Exemplarisch soll an der Westsahara, nicht zuletzt aufgrund der Größe des Territoriums und der Bevölkerungszahl, die Arbeitsweise der C-24 verdeutlicht werden. Jedes Non-Self-Governing Territory hat eine eigene UN-Mission, dies ist für das nordafrikanische Land die „United Nations Mission for the Referendum in Western Sahara“ (MINURSO), die 1991 geschaffen wurde. Nachdem die Kolonialmacht Spanien sich 1976 aus dem Gebiet zurückgezogen hatte, marschierte das Nachbarland Marokko ein und besetzt seitdem weite Teile des Landes. Die Demokratische Arabische Republik Sahara (SADR) besteht aus einem Wüstenstreifen im Osten des Landes, außerdem hat Algerien kleinere Gebiete in der Nähe der Stadt Tindouf für insgesamt sechs Flüchtlingslager zur Verfügung gestellt, in denen etwa 200.000 „Langzeitflüchtlinge“ seit mehreren Generationen leben. Die Lager liegen bis zu hundert Kilometer auseinander, der Ort Rabouni fungiert als de-facto-Hauptstadt der SADR. Viele Sahauris sind im Ausland und schicken Geld an ihre Familienangehörigen in den Camps. Dadurch konnten dort kleine Läden, Handwerksbetriebe und Taxiunternehmen aufgebaut werden, denn andere Einkommensmöglichkeiten gibt es nicht. Internationale Lebensmittellieferungen und sonstige humanitäre Güter werden in Selbstverwaltung verteilt. Die SADR ist somit ein spezielles Land: „A refugee nation, instead of being governed by its host country or the UNHCR, governs itself” [Dreven et al. 2019, 86].
Auch die Lager sind selbstverwaltet, sie verfügen u.a. über eine relativ gute Gesundheits- und Bildungsversorgung, die aber überwiegend von internationaler Unterstützung abhängig ist. Alle etwa 40.000 schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen nehmen regelmäßig am Unterricht teil, es gibt über 3.000 Lehrkräfte, die in der Vorschule (Kita) und in der sechsjährigen Primarschule (das Einschulungsalter ist sieben Jahre) arbeiten. Sekundarschulen gibt es allerdings nur wenige, deshalb wählen Jugendliche häufig eine Schule in Algerien. In Tifariti gibt es eine kleine Universität mit nur wenigen Studiengängen, die meisten jungen Menschen studieren im Ausland, fast immer unterstützt durch ein Stipendium. Allein in Cuba haben 4.000 Sahauris studiert. [Dreven et al. 2019]
Die Schulen sind relativ gut ausgestattet, in den Camps fehlt jedoch ein leistungsfähiges Internet. Man arbeitet nicht mit einem offiziellen Curriculum, vielmehr gibt das Erziehungsministerium monatliche und jährliche Dokumente heraus, in denen den Lehrkräften für jeden Tag Inhalte und Kompetenzen vorgeschlagen werden, die im Unterricht zu vermitteln bzw. auszubilden sind. Diese Vorschläge sind vor dem Hintergrund der gerade verfügbaren Schulbücher unterbreitet, denn der Mangel an Unterrichtsmaterialien erschwert die Lehrtätigkeit sehr. So ist einerseits der Unterricht in den Lagern kostenlos, andererseits sind die Lehr-Lern-Möglichkeiten stark abhängig von der internationalen Kooperation. In jedem Lager wurde eine kleine Einrichtung für Kinder mit einer Behinderung geschaffen („Centro de Educación Especial“). Diese Vor- und Primarschulen sind etwas besser vor allem mit sensorischen und haptischen Materialien ausgestattet, die Lehrkräfte haben zumeist eine sonderpädagogische Ausbildung im Ausland absolviert, hier arbeiten auch viele internationale Freiwillige. In den Einrichtungen werden junge Menschen von vier bis 26 Jahren aufgenommen, in der Gruppenbildung erfolgt keine Unterscheidung nach Behinderungsformen. Für sie bestehen allerdings nur geringe Chancen auf einen Arbeitsplatz. [Rivero Casado 2013]
Ein vergleichbares Konstrukt eines Bildungssystems gibt es in den fünf Gebieten, in denen palästinensische Flüchtlinge und Vertriebene leben, auch dort sind die ersten notdürftigen Flüchtlingsschulen über die Jahre zu einem überwiegend international finanzierten Schulsystem institutionalisiert worden, das allerdings im Rahmen eines eigenen UN-Programms (→) UNRWA verwaltet wird. Anders als in Palästina erhält die Westsahara hauptsächlich Unterstützung von der internationalen Zivilgesellschaft. Jede Kleinstadt in Spanien hat einen Verein, der Geld für die SADR sammelt, Kinder und Jugendliche aus den Camps in den Ferien nach Spanien einlädt oder Studierende aufnimmt. Ebenso gibt es in vielen anderen Ländern der EU solche Hilfsstrukturen für die Westsahara. Gerade in der beruflichen Ausbildung und in der Bereitstellung von Studienplätzen engagieren sich auch einige Städte und Universitäten in Deutschland, mehrere Hochschulen in Österreich bilden Erzieherinnen für die Kitas in den Camps aus. Überdies unterstützen viele Hilfsorganisationen wie die Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt, fairhelfen.de, Terre des Hommes oder medico international das Land. [Bebek et al. 2019; www.aswnet.de; www.fairhelfen.de; www.medico.de; www.tdh.de]
Bebek, Lisa; Höllmüller, Hubert; Syme, Franziska (Hrsg.) (2019): Erasmus goes Westsahara: Ein Hochschulaustausch mit der letzten afrikanischen Kolonie im Hinterhof Europas. Klagenfurt: Drava. – Dreven, Simon; Poprask, Cvetka; Ramšak, Rok (2019): The everyday reality of Sahrawi people: living in the exile. Field study. In: Bebek, Lisa; Höllmüller, Hubert; Syme, Franziska (Hrsg.) (2019): Erasmus goes Westsahara: Ein Hochschulaustausch mit der letzten afrikanischen Kolonie im Hinterhof Europas. Klagenfurt: Drava, 82-126. – Rivero Casado, Iraide (2013): Vida y educación en los campamentos de refugiados saharauis. Tesis de Maestría: Universidad de Valladolid. – United Nations – Decolonization Unit (2016): What the UN can do to assist Non-Self-Governing Territories. New York: UN.