Reflexionen

Das Lexikon fasst in mehr als fünfzig Artikeln die wichtigsten Fakten zum jeweiligen Schulkonzept in seiner historischen Entwicklung und weltweiten Ausdifferenzierung knapp zusammen.

Beziehung und Kommunikation

Normalschule und Spezielle Schule zeichnen sich durch unterschiedliche pädagogische Diskursordnungen aus, man würde aber beiden Organisationsformen nicht gerecht, wenn man zur Unterscheidung lediglich schlichte binäre Oppositionen benutzen würde: Hier die lehrerzentrierte und überorganisierte, dort die jugendnahe und partizipative Diskursordnung.

Während Normalschulen häufig durch und durch verwaltete und oftmals weder der Schülerschaft noch den Lehrkräften transparente Einrichtungen sind, die man begründet als überstrukturiert bezeichnen kann, sind Spezielle Schulen eher unterstrukturiert, ohne dass dies Plan- und Ziellosigkeit bedeuten würde. Die Normalschule bildet als eine bürokratisch-zweckrationale Institution zwangsläufig relativ starre Binnenstrukturen aus, weil diese Stabilität und „Identität“ der Organisation durch ein eigenes System von Verhaltensnormen, Hierarchien und Einstellungen garantieren. Mit hoher innerer Festigkeit, die oftmals zu Starrheit und Trägheit führt, werden jedoch paradoxerweise die Beweglichkeit und Flexibilität erreicht, die zur tagtäglichen Bewältigung von Heterogenität sowie für dauerhafte pädagogische Modernisierungen erforderlich sind, sich die Schulen damit jedoch zugleich einer die pädagogische Kommunikation erstickenden Zweckrationalität ausliefern. Spezielle Schulen können Binnenstrukturen relativ flexibel bzw. offen gestalten und diese aufgrund der Größe auch im Informellen belassen. Sie erscheinen dadurch allerdings oftmals als nach außen recht geschlossene Einrichtungen mit einem gleichsam familiären Charakter, was ihnen den Vorwurf einbringen kann, sie seien gesellschaftsabgewandte pädagogische Inseln.

Lehrkräfte spüren die Unterschiede: „Für Rolleninhaber, die beide Organisationsformen nacheinander erlebt haben, wird das vergangene Leiden an der restriktiven Rollenstruktur des etablierten Systems kontrastiert mit dem neuen Leiden einer diffusen Rollenstruktur der ‚freien‘ Organisation, die Erfahrung eines begrenzten Spielraums steht im Gegensatz zu dem offenen, unidimensionalen Spielraum des ‚freien‘ Systems, dessen Grenzen im Geflecht einer tagtäglich wandelnden sozialen Interaktion individuell erfahren und verbindlich gemacht werden muß“ [Verein Freie Schule Hamburg e.V., 1986, 41].

Die Jugendlichen sind in der Regel ebenfalls „Rolleninhaber“ in beiden Organisationsformen gewesen: In den Normalschulen erlebten sie zumeist eine Institution, die ihnen viel Anpassung abverlangt und die vermutlich als ‚restriktiv’ und gängelnd auf sie wirkte. Andererseits sind gerade Normalschulen durchaus ‚freie’, um nicht zu sagen ‚diffuse’ Systeme, in denen die Jugendlichen ein hohes Maß an Selbstorganisation in täglich sich wandelnden Beziehungen erbringen müssen. Demgegenüber sind die Speziellen Schulen ebenfalls nicht nur beziehungspädagogische ‚Kuschelecken’. In den Werkstätten und in der Produktion haben die Jugendlichen oftmals ‚nichts zu sagen‘. Der Auftrag muss termingerecht und qualitativ überzeugend erledigt und die Bestellung muss abgearbeitet werden. Der Werkstattmeister oder die Anleiterin geben die Anweisung oder kontrollieren den Arbeitsprozess. Da ist wenig Raum für Mitbestimmung, Kreativität und Selbstentfaltung, und dennoch nehmen die Jugendlichen diese Fremdbestimmung ohne den üblichen Widerstand, gar hoch motiviert an, was durchaus überraschend ist.

Die Speziellen Schulen setzen einerseits auf eine intensive Beziehungspädagogik, andererseits auf Distanzpädagogik. Sie nutzen insbesondere in der Fernbeschulung schon sehr lange digitale Medien, das virtuelle Klassenzimmer ist – synchron und asynchron – ein fester Bestandteil ihrer Pädagogik. Interaktion und Interaktivität sind kommunikative Grundformen und zugleich Formen der Beziehungsgestaltung, die vielen der über 50 Schulkonzepte dieses Lexikons zugrunde liegen.

In der face-to-face-Beziehung sind Raum und Kommunikation an einem Ort miteinander verknüpft. Die Anwesenheit von Personen, die dadurch einen gemeinsamen Wahrnehmungskontext teilen, gilt als eine grundlegende Voraussetzung von Interaktion. Forschungen erbrachten die Einsicht, dass Kommunikation sich zwar auf den Raum beziehen kann, aber nicht beziehen muss. Die traditionelle Unterstellung, dass Pädagogik nur gelingen kann, wenn sich der pädagogische Bezug an einem Ort bildet, wenn also Kommunikation und Raum kongruent zueinander sind, wird in der Distanzpädagogik infrage gestellt und behauptet, dass Beschulung aus der Ferne – aus der pädagogischen Distanz – ebenfalls zu intensiven Beziehungen – zu Nähe – zwischen Schülerschaft und Lehrkräften führen kann. [Maresch/Werber 2002]

Für die stationäre Normalschule ist die zeitgleiche Anwesenheit von Schülerschaft und Lehrkräften an einem Ort konstitutiv. Der soziale Raum ‚Schule‘ wird in der Fernbeschulung jedoch nicht aufgelöst, sondern in einer anderen Weise konstruiert. Obwohl auch synchrone Formen der Interaktion zur Anwendung kommen – das Telefonat, das Gespräch via Skype, der Dialog im Chatroom – ist die pädagogische Kommunikation doch überwiegend als ein zeitlich sequenzierter und gedehnter Prozess organisiert. Die Lehrkraft schickt den Schülerinnen und Schülern auf dem Postweg die Aufgaben zu, die nach ein oder zwei Wochen bearbeitet zurückkommen. Einige Tage später erhalten sie eine Rückmeldung und neue Aufgaben – dieser Ablauf wiederholt sich prinzipiell jahrelang. Nicht der direkte, persönliche und zeitnahe Austausch, sondern eine verzögerte und indirekte Kommunikation zeichnet die Distanzpädagogik aus.

Vor der Verbreitung der Schrift war es schwierig, mit nicht-anwesenden Menschen zu kommunizieren. Mit alten und neuen Kommunikationsmedien jedenfalls ist die Interaktion in Abwesenheit nicht nur möglich, sondern auch qualitativ intensiv geworden. Obwohl Kommunikation nicht mehr in Interaktion aufgeht, entstehen dennoch gehaltvolle kommunikative Beziehungen. Es ergeben sich somit zwei Grundformen – „Kommunikation in praesentia und Kommunikation in absentia“ [Maresch/Weber 2002, 41] – die wir alltäglich nutzen, beispielsweise in der persönlichen Interaktion und im unpersönlichen Schriftverkehr. Aus einer kommunikationstheoretischen Sicht sind diese beiden Grundformen zwar unterschiedlich aber gleichwertig. Kommunikation in Anwesenheit und Kommunikation in Abwesenheit sind in der modernen Gesellschaft ‚normale‘, wenngleich voneinander geschiedene, aber dennoch gleichrangige Kommunikationsmodi. Pädagogik dagegen priorisiert erstere mit dem Argument, dass die persönliche, zeitgleiche Interaktion zwischen Erzieher und Zögling konstitutiv für das pädagogische Handeln sei. Gleichwohl wird auch die pädagogische Kommunikation in Abwesenheit in der Schule genutzt. Ein Beispiel hierfür wären Hausaufgaben, die in Abwesenheit der Lehrkraft und ohne direkte Interaktion im pädagogischen Feld zu erledigen sind. Doch als charakteristisches Strukturmerkmal der Schule gilt die pädagogische Kommunikation in Präsenz. Demgegenüber organisiert sich die Fernbeschulung im zweiten Kommunikationsmodus und scheint, selbst mit schuldistanzierten Jugendlichen, zumindest den Bildungsauftrag erfüllen zu können. 

Die Interaktion des einen Kommunikationsmodus begünstigt bestimmte kommunikative Möglichkeiten – die Diskussion, Debatte, das Argumentieren, Streiten –, doch auch die Interaktivität der zweiten Kommunikationsform zeichnet mehr aus als lediglich einen Informations- und Datentransfer. In der Kommunikation in absentia geht es vor allem darum, die Anschlussfähigkeit der Kommunikation über einen längeren Zeitraum sicherzustellen. Nicht argumentative Rationalität, vielmehr interaktive Anschließbarkeit ist das Ziel [Krämer 2002, 65]. Die pädagogische Kommunikation zumindest über die Lernprozesse der Jugendlichen sicherzustellen, gelingt der Distanzpädagogik in hervorragender Weise. Dies erfordert ein hohes Maß an Selbstorganisation auf Seiten der Jugendlichen, eine Kompetenz, die oftmals gerade bei ihnen nicht erwartet wird.

Während somit beispielsweise (→) Produktionsschulen und (→) Lernwerkstätten exponierte Schulkonzepte einer Pädagogik in presentia sind, in denen mit schulmüden Jugendlichen mit einer Intensivierung pädagogischer Kommunikationsdichte face-to-face gearbeitet wird und solchermaßen durch ‚Nähe‘ intensive pädagogische Beziehungen hergestellt werden, wählen die (→) Fern- und Webschulen oder (→) Intensivpädagogik im Ausland eine Pädagogik in absentia und scheinen auch in ‚Distanz‘ und über einen relativ langen Zeitraum intensive pädagogische Kommunikation erzeugen zu können. Beide Zugangsweisen und Schulkonzepte verbindet ein intensiver pädagogischer Bezug, es sind gleichrangige Ansätze, die deshalb nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten. 

Krämer, Sybille (2002): Kommunikation. In: Maresch, Rudolf; Werber, Niels (Hrsg.): Raum – Wissen – Macht. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 49-68. – Maresch, Rudolf; Werber, Niels (Hrsg.): Raum – Wissen – Macht. Frankfurt/Main: Suhrkamp. – Verein Freie Schule Hamburg e.V. (1986): Freie Schule Hamburg in der Honigfabrik. Wissenschaftliche Begleitung des staatlich geförderten Projekts Freie Schule Hamburg (1983-1986). Hamburg: Verein Freie Schule Hamburg e.V.