Reflexionen
Das Lexikon fasst in mehr als fünfzig Artikeln die wichtigsten Fakten zum jeweiligen Schulkonzept in seiner historischen Entwicklung und weltweiten Ausdifferenzierung knapp zusammen.
Geschichte und Geografie
Die Geschichte des in diesem Lexikon beschriebenen schulischen Feldes erweist sich als durchgängiger historischer Prozess, der sich aber in mehrere Entwicklungsstränge ausdifferenziert.
Die Randgruppengeschichte rekonstruiert, wie Gesellschaften soziale Ordnungen hervorbringen. Im zentraleuropäischen Mittelalter lebten Bettler, Fremde, Dirnen und Waisen marginalisiert, aus christlicher Barmherzigkeit wurden für sie soziale Einrichtungen geschaffen (→ Armenschulen). Gleichwohl ging es zu dieser Zeit noch nicht so sehr um Allgemeine Bildung und Erfüllung einer Schulpflicht, aber doch um Unterweisung, Erziehung und darum, den Bedürftigen eine gewisse selbständige Lebensführung zu ermöglichen, sodass sie nicht mehr den „Gemeindekassen“ zur Last fielen. Für diese Zielsetzung war die Gelehrtenschule denkbar ungeeignet, sehr viele Volksschulen gab es jedoch noch nicht, üblich war privater (→) Hausunterricht, für den aber bezahlt werden musste. Doch Lesen, Rechnen und Schreiben wurden zunehmend gesellschaftlich wichtige Kompetenzen. Womöglich die Hälfte aller im Lexikon beschriebenen Schulen sind dieser geschichtlichen Entwicklungslinie zuzuordnen. [Irsigler et al. 1984; Hergemöller 1994; Rheinheimer 2000; Kintzinger 2003]
Auch mit der neuzeitlichen Kolonialgeschichte ist das fokussierte schulische Feld eng verknüpft. Einerseits muss man der kirchlichen Missionspädagogik zugestehen, dass sie die Kinder nicht nur christianisieren und zivilisieren wollte, sondern dass sie mit ihren Unterstützungsansätzen auch die Folgen der kolonialen Herrschaft, etwa die Zerstörung gewachsener sozialer Strukturen, Versklavung und ökonomische Ausbeutung, wenigstens für einige Kinder abfedern wollte. Doch wir erkennen heute, dass die Missionspädagogik durch einen teils aggressiven und gewalttätigen Assimilierungsansatz den sozialen und kulturellen Zerstörungsprozess massiv vorangetrieben hat. Die weltweit vorhandenen (→) Indigenen Schulen versuchen deshalb, Sprache, Kultur und Geschichte der ehemals Kolonisierten zu revitalisieren. Die europäischen (→) Untergrundschulen wiederum reagier(t)en auf den Binnenkolonialismus, denn die sprachliche und kulturelle Unterdrückung traf auch viele ethnische Gruppen in den europäischen Nationalstaaten, in einigen Regionen ist der Kampf um kulturelle Selbstbestimmung bis heute nicht beendet. Selbst wenn es nur noch wenige (→) Non-Self-Governing Territories gibt, sind postkoloniale Schulkonzepte – zum Beispiel (→) Black Schools – aufgrund des fortbestehenden weltweiten Rassismus weiterhin wichtig.
Da „Fremde“ oftmals keinen gesetzlichen Zugang zur öffentlichen Schule haben, ist die Migrationsgeschichte bis heute ebenfalls ein relevanter historischer Strang. Wie gezeigt, musste mit der Nationalstaatlichkeit die Frage der Schulpflicht neu gestellt werden für diejenigen, die eine ausländische oder eine doppelte Staatsangehörigkeit haben, womöglich staatenlos sind. Überdies bringen Binnenmobilität, Nomadismus oder Fluchtmigration die nationalen Schulsysteme an ihre Grenzen und machen subsidiäre Lösungen erforderlich. Die jüdischen (→) Auswanderungsschulen zeigen die existentielle Bedeutung solcher Einrichtungen in lebensbedrohlichen politischen Lagen. Zeitgleich gab es die (→) kolonialen Auswanderungsschulen, in denen überwiegend deutsche Weiße – auch sie oftmals aus armen Verhältnissen – für ein Leben in den Kolonien vorbereitet wurden.
Seit Jahrhunderten gibt es eine Normalisierungsgeschichte des Umgangs mit sozialer Abweichung, die erziehungswissenschaftlich auch als „Schwarze Pädagogik“ bezeichnet wird [Seichter 2020]. Es sind dies mit die düstersten Kapitel der Schulgeschichte insgesamt, auch die im Lexikon beschriebenen Bildungseinrichtungen können darin verstrickt sein. Denn Psychiatrie und Pädagogik gelten als wichtige Disziplinen, in denen die fließenden „Devianzgrenzen“ gezogen werden und mithin bestimmt wird, wo Normalität endet und Abnormalität beginnt – und sich sodann ein sozialfürsorgerischer und pädagogischer Interventionsbedarf begründet. Insbesondere Sexualität, geistige und psychische Abweichungen sowie Kriminalität sind Verhaltensweisen, an denen „Toleranzgrenzen“ der Abnormalität gezogen werden. Je nach gesellschaftlichem Entwicklungsstand werden die „Abnormalen“ in geschlossenen Einrichtungen gebessert oder es wird ihnen eine akzeptierende Bildung angeboten, die mal in Speziellen, mal in Regel- oder Sonderschulen umgesetzt wird. [Link 1999; Foucault 2003; Seichter 2020]
Blickt man auf die geografische Verbreitung der hier beschriebenen Bildungseinrichtungen, zeigt sich in Folge der Universalisierung der modernen Schule ein globaler Expansionsprozess, es lassen sich aber ebenso regionale Besonderheiten kartographieren. [Adick 1992]
Die Speziellen Schulen gibt es weltweit in allen sozialräumlichen Vergesellschaftungsformen, denn städtische, ländliche und nomadische Lebensweisen stellen für die Organisation von schulischer Bildung jeweils spezifische Herausforderungen. Zwar lösen globale Modernisierungsprozesse diese klare Dreiteilung auf, aber zumindest regional ist sie noch zu finden. Aufgrund der Größe und Anonymität gehen Kinder und Jugendliche in großen Städten leicht verloren, die Lebenslagendimension „Obdach“ ist besonders eng mit Armut verknüpft. Prostitution und harte Drogen sind ebenfalls zuvörderst urbane Problemlagen. Die hohe Bevölkerungsdichte in Städten erleichtert es jedoch, ein zugleich kleinräumiges und flächendeckendes Schulsystem mit vielfältigen Spezialschulen anzubieten. In ländlichen Räumen ist die Mitarbeit von Heranwachsenden in den familiären Subsistenzökonomien unabdingbar, Armut ist dort oftmals konzentriert und verfestigt, der Schulbesuch muss deshalb mit ‚angepassten‘ Konzepten ermöglicht werden (→ Hüteschulen). Für Land- und Seenomaden braucht es Alternativen zur stationären Schule (→ Zeltschulen).
Spezielle Schulen sind zudem mit der internationalen Entwicklungszusammenarbeit zwischen den Staaten des Globalen Nordens und Südens verknüpft. So engagiert sich Deutschland sehr im Aufbau (→) Indigener Schulen in Lateinamerika, die Übertragung des Konzepts auf Afrika erwies sich jedoch allerdings als schwierig. Kinderarbeit und Straßenkindheit gelten vor allem als Phänomene des Globalen Südens, die aktuellen Konzepte der (→) Bahnhofs- und Straßenschulen sind dort entwickelt worden. Doch in den Industrieländern gibt es zumindest eine beträchtliche Zahl von Straßenjugendlichen, die Einrichtungen greifen ebenfalls auf Konzepte des Globalen Südens zurück. Demgegenüber zeigen Forschungen zum Transfer des schulischen Inklusionsansatzes aus den postindustriellen Wohlfahrtsgesellschaften in die Länder des Globalen Südens, dass dies dort insbesondere in den ländlichen Regionen nachgerade kontraproduktiv ist [Schiemer/Proyer 2015].
Andere Schulkonzepte entwickeln sich eher in ungleichzeitigen Verbreitungsmustern, indem ähnliche Lösungen für unterschiedliche Probleme gefunden werden. Die (→) Nachtschulen für freigelassene Sklaven in den USA stammen aus der postfeudalen Zeit und entstanden eher im ländlichen Raum, später wurden sie dann in den amerikanischen Großstädten für das eingewanderte Proletariat genutzt. Die heutigen Nachtschulen in Indien reagieren hingegen auf bittere rurale Armut. Auch (→) Gemeinwesenschulen sind global verbreitet, die weltweite Einrichtung von Community Centers wurde von internationalen Organisationen wie der WHO aber auch von zivilgesellschaftlichen Netzwerken vorangetrieben. UNICEF und UNHCR engagieren sich im Aufbau von Schulen in Katastrophengebieten und Flüchtlingslagern genauso wie von inklusiven öffentlichen Schulsystemen oder speziellen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe (→ UNRWA-Schulen).
Armenschulen sind zudem geopolitische Instrumente: Im Blockdenken des „Kalten Krieges“ gab es vielfältige Bemühungen, der bürgerlichen Schule der „Ersten“ Welt und der sozialistischen Schule der „Zweiten“ auch „eigene“ Bildungskonzepte der „Dritten“ Welt der „Blockfreien“ entgegenzusetzen, die allerdings von internationaler Unterstützung abhingen und deshalb zumeist dependent geblieben sind. Die zivilgesellschaftliche Solidarität mit dem Dekolonisierungskampf in der Westsahara (→ Non-Self-Governing Territories) ist geopolitisch ebenfalls nicht neutral. Die zwiespältige Rolle der internationalen Solidaritätsarbeit wird gerade erst aufgearbeitet (vgl. auch → „White Elephants“).
Adick, Christl (1992): Die Universalisierung der modernen Schule: eine theoretische Problemskizze zur Erklärung der weltweiten Verbreitung der modernen Schule in den letzten 200 Jahren mit Fallstudien aus Westafrika. Paderborn: Schöningh. – Foucault, Michel (2003): Die Anormalen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – Hergemöller, Bernd-Ulrich (Hrsg.) (1994): Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Warendorf: Fahlbusch. – Irsigler, Franz; Lassota, Arnold (1984): Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker. Außenseiter in einer mittelalterlichen Stadt. München: DTV. – Kintzinger, Martin (2003): Wissen wird Macht. Bildung im Mittelalter. Ostfildern: Jan Thorbecke. – Link, Jürgen (1999): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen und Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. – Rheinheimer, Martin (2000): Arme, Bettler und Vaganten. Überleben in der Not 1450-1850. Frankfurt am Main: Fischer. – Schiemer, Michelle; Proyer, Margarita (2015): Bildung für Kinder mit Behinderungen. Kritik an einem universalen Konzept der Inklusion am Beispiel Thailands und Äthiopiens. In: Faschingeder, Gerald; Kolland, Franz (Hrsg.): Bildung und ungleiche Entwicklung. Globale Konvergenzen und Divergenzen in der Bildungswelt. Wien: new academic press, 160-174. – Seichter, Sabine (2020): Das „normale“ Kind. Einblicke in die Geschichte der schwarzen Pädagogik. Weinheim: Beltz.