Reflexionen
Das Lexikon fasst in mehr als fünfzig Artikeln die wichtigsten Fakten zum jeweiligen Schulkonzept in seiner historischen Entwicklung und weltweiten Ausdifferenzierung knapp zusammen.
Nachhaltigkeit und Zukunft
Ersatzschulen ersetzen qua Definition solche Schulen, die der Staat nicht anbieten kann oder will (→ Begriffe). Das Lexikon verzeichnet Bildungseinrichtungen, die es früher mal gegeben hat oder die es immer noch gibt, weil für spezielle Zielgruppen oder bestimmte Lebenslagen, aus politischen Erwägungen oder aufgrund von pädagogischem Handlungsdruck schulischer Ersatz gefunden werden muss(te). Gleichwohl stellt sich die Frage, ob es solche Schulen heutzutage noch braucht, um eine umfassende Bildungsteilhabe zu verwirklichen?
Denn der globale Dekolonisierungsprozess ist beinahe abgeschlossen, einer Gleichberechtigung der Geschlechter ist man – weltweit – bedeutend nähergekommen, Migration wird immer häufiger nicht mehr als Problem, sondern als Normalität betrachtet, Kinder und Jugendliche mit Behinderung erhalten zunehmend eine qualitativ hochstehende inklusive Bildung. Weltweit sind Armut und Analphabetismus rückläufig, eine nomadische Lebensweise praktiziert nur noch ein kleiner Anteil der (Welt-)Bevölkerung. Die Menschenrechte sind international akzeptiert und in Kinderrechten ausdifferenziert – doch zugleich werden sie weiterhin massenhaft verletzt. Kriege und in der Folge Geflüchtete gibt es so viele wie schon lange nicht mehr, Umwelt- und Klimakatastrophen oder Pandemien häufen sich. Rassismus, religiöse Konflikte, Drogen- und Menschenhandel nehmen weltweit (wieder) zu; Saisonarbeit, Tagelöhner, Obdachlosigkeit weiten sich aus. All das wird neue – und alte – ökonomische, soziale und kulturelle Ungleichheiten produzieren und kontinuieren, die die Schulpädagogik vor neue – und alte – Herausforderungen stellen werden.
Die Geschichte(n) der Schulen, um die es in diesem Lexikon geht, zeigen ebenfalls, dass es mittel- und vermutlich auch noch langfristig professionelle Felder geben muss, die sich auf pädagogische Fragen bei erschwerten Bedingungen konzentrieren, um angemessene Bildungskonzepte zu entwickeln. Dieses Handlungsfeld ist somit anschlussfähig an diejenigen Traditionen der Pädagogik, die einen besonderen Fokus auf marginalisierte Minderheiten richten, eine Position, die mit dem Slogan „Education for all, and especially for some“ schon länger auch von der UNESCO vertreten wird. Vernünftigerweise wird man die „erschwerten Bedingungen“ nicht ausschließlich einer erziehungs-, bildungs- oder sozialarbeitswissenschaftlichen Disziplin zuordnen, sondern diese Herausforderungen in einer interdisziplinären Zusammenarbeit angehen. Denn ansonsten würden professionelle Handlungsansprüche vorschnell einseitig aufgelöst. [UNESCO 2005]
Die in diesem Lexikon dargestellten Schulkonzepte gehören einerseits zur Allgemeinen Bildung, ohne jedoch deren universalistischen Anspruch der Bildung des Menschen zu teilen. Stattdessen wird ein bestimmter Personenkreis adressiert, nämlich Menschen in Not, die allerdings zur Erarbeitung der erforderlichen Angebote in der Heterogenität ihrer Lebenslagen, Benachteiligungen und Bildungsbedürfnisse präzise wahrgenommen werden. Deshalb ist das Spannungsverhältnis zwischen einer emanzipatorisch-reflexiven Bildung auf der einen und einer Bildung in und für prekäre soziale Milieus auf der anderen Seite in eine Balance zu bringen.
Spezielle Schulen haben einen genuinen gesellschaftlichen Bildungsauftrag und müssen zugleich den sozialpädagogischen Anspruch von Unterstützung konzeptionell integrieren und praktisch umsetzen, um Bildungsarbeit überhaupt zu ermöglichen. Unterstützung ist hier eine grundlegende Bedingung der Möglichkeit für Bildung, weil zunächst die primären Bedürfnisse befriedigt und Problemlagen entschärft werden müssen, bevor sich die Lernenden (wieder) auf Bildungsprozesse einlassen können. Zum anderen sind es Einrichtungen, die einen gesellschaftlichen Unterstützungsauftrag haben, aber in ihren Leistungen auch Bildungsangebote vorsehen, in der Annahme, dass durch Lernprozesse zum Bewältigungshandeln der individuellen Problemlage die Nachhaltigkeit der sozialen Unterstützung besser gesichert werden kann. So weiß man in der Schuldnerberatung, dass eine Entschuldung (Unterstützung) allein nicht ausreicht, sondern auch finanzielle Kompetenzen (Bildung) ausgebildet werden müssen, wollen sich die Ratsuchenden vor erneuten Überschuldungen bewahren.
In den Angeboten der Speziellen Schulen erfahren die Teilnehmenden, dass die Pädagoginnen und Pädagogen über umfassendes und fundiertes Lebensweltwissen zu der je konkreten Problemlage verfügen. Bildung wird von den Teilnehmenden als relevant bewertet, wenn es die Selbstaufklärung über die eigene Biografie unterstützt, und wenn sie Anwendungs-, Orientierungs-, Handlungs- und Strategiewissen erwerben können, das ihnen hilft, ihre Rechte einzuklagen, sich verbal und physisch zu verteidigen und die ihnen Sicherheit geben, Respekt verschaffen und sie schützen. Es sind Bildungsangebote, die wirksam zur Bewältigung umfassender Ausgrenzung beitragen, die nicht vorrangig auf Selbstverwirklichung zielen, sondern ihre Überzeugungskraft daraus gewinnen, dass sie den Betroffenen nachweislich helfen, konkrete Probleme zu lösen, die aber ebenso redlich vermitteln, dass sich extreme Lebenslagen nur bedingt transformieren lassen.
In den schon erwähnten Kooperativen Graduiertenkollegs (→ Geschichte des Lexikons) haben wir dieses Handlungsfeld heuristisch soziale Bildungsarbeit genannt. Damit knüpfen wir an Paul Natorp [1894, 1898, 1907] an, der mit diesem Konzept „seine Sicht einer zeitgemäßen, dem Gegenstand der Sozialen Frage angemessenen, Pädagogik“ [Henseler 2000, 34] zum Ausdruck brachte. Die Aufgaben einer solchen „Pädagogik der sozialen Frage“ [Dollinger 2006] bestimmte Natorp in der vielzitierten Formulierung: „Die Sozialpädagogik hat als Theorie die sozialen Bedingungen der Bildung und die Bildungsbedingungen des sozialen Lebens zu erforschen“ [Natorp 1894, 62f.]. Die soziale Pädagogik sollte sich seiner Ansicht nach jedoch nicht mit der Analyse begnügen, sondern diese Bedingungen im Sinne einer vorgestellten Entwicklung günstig beeinflussen: „Natorp beansprucht damit […], der entschiedenste Vertreter eines Programms zu sein, das Bildungsgegensätze nicht nur aus Begabungsdifferenzen erklärt, sondern aus vorenthaltenen Bildungschancen“ [Merten 2006, 59].
In Bezug auf die Speziellen Schulen ist jedoch – weitergefasst als Natorp – nicht nur nach den sozialen Bedingungen der Bildung, sondern auch nach den sozialen Bedingungen der Erziehung und Unterstützung zu fragen. Mit dieser kategorialen und praxisrelevanten Erweiterung werden Begriff, Begründung und Konzept der sozialen Bildungsarbeit auch für die Theoriebildung, die Gestaltung und nicht zuletzt für die Forschung der Schulpädagogik interessant. Denn für die Weiterentwicklung einer pädagogischen Handlungswissenschaft erschwerter Bedingungen im Schnittpunkt aus Erziehungs-, Bildungs- und Sozialarbeitswissenschaft sind immer wieder neue Antworten auf die drei Grundfragen zu formulieren, die Natorp in der Definition und im Programm der sozialen Bildungsarbeit aufwirft:
- Wie können die sozialen Bedingungen der Erziehung, Bildung und Unterstützung erforscht werden? (Methodologie)
- Wie können diese Bedingungen in ihren Wirkungen erklärt werden? (Theoriebildung)
- Wie können diese Bedingungen günstig beeinflusst werden? (Praxeologie)
Nun darf allerdings nicht vergessen werden, dass soziale Bildungsarbeit ein bildungstheoretisches Konzept ist, das auf die spezifische Geschichte des gesellschaftlichen, institutionellen und politischen Umgangs mit der Sozialen Frage in den Ländern des Globalen Nordens – und letztlich lediglich in Deutschland – reagiert. Deshalb ist noch viel Forschungsarbeit nötig, um empirisch zu überprüfen, ob und wie ein Transfer solcher Konzepte in die sozialen Bedingungsgefüge anderer Gesellschaften als Deutschland möglich ist. Zum anderen wird man sich in der internationalen Bildungszusammenarbeit selbstkritisch den hegemonialen Tendenzen bei der Implementierung dieses Konzepts in die Länder des Globalen Südens stellen, und auch dort genauestens die geschichtliche Verortung der Bildungspolitik, die gesellschaftliche Situierung der Bildungsinstitutionen und die kulturellen Kontexte der Bildungspraxis, mithin die sozialen Bedingungen der Erziehung, Bildung und Unterstützung, reflektieren.
Dollinger, Bernd (2006): Die Pädagogik der sozialen Frage. (Sozial-)Pädagogische Theorie von Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik. Wiesbaden: Springer. – Henseler, Joachim (2000): Wie das Soziale in die Pädagogik kam. Zur Theoriegeschichte universitärer Sozialpädagogik am Beispiel Paul Natorps und Herman Nohls. Weinheim und München: Beltz Juventa. – Merten, Roland (2006): Bildung und soziale Ungleichheiten – Sozialpädagogische Perspektiven auf ein unterbelichtetes Verhältnis. In: Fatke, Reinhard; Merkens, Hans (Hrsg.): Bildung über die Lebenszeit. Schriftenreihe der DGfE. Wiesbaden, 57-67. – Natorp, Paul (1894): Religion innerhalb der Grenzen der Humanität. Ein Kapitel zur Grundlegung der Sozialpädagogik. Freiburg: J.C.B. Mohr. – Natorp, Paul (1898): Sozialpädagogik. Theorie der Willensbildung auf der Grundlage der Gemeinschaft. Schöninghs Sammlung Pädagogischer Schriften. Besorgt von Richard Pipert. Paderborn: Schöningh. – Natorp, Paul (1907): Gesammelte Abhandlungen zur Sozialpädagogik. Stuttgart: Fr. Frommans Verlag. – Schroeder, Joachim; Seukwa, Louis Henri (Hrsg.) (2017): Soziale Bildungsarbeit mit jungen Menschen. Handlungsfelder, Konzepte, Qualitätsmerkmale. Bielefeld: transcript. – UNESCO (2005): Guidelines for Inclusion: Ensuring Access to Education for All. Paris: UNESCO.