Reflexionen
Das Lexikon fasst in mehr als fünfzig Artikeln die wichtigsten Fakten zum jeweiligen Schulkonzept in seiner historischen Entwicklung und weltweiten Ausdifferenzierung knapp zusammen.
Raumgestaltung und Temporalisierung
Die Speziellen Schulen kennzeichnen besondere räumliche und zeitliche Strukturen, um den Zugang, den Verbleib und den erfolgreichen Abschluss für die Kinder und Jugendlichen im Bildungssystem besser zu gewährleisten als es der Normalschule möglich ist.
Die Bildungseinrichtungen befinden sich oftmals an denjenigen lebensweltlichen Orten, an denen sich die Schülerinnen und Schüler zeitweise aufhalten (Bahnhof, Straße, Hinterhöfe), an denen sie arbeiten (Baustellen, Jahrmarkt), gezwungenermaßen leben (Flüchtlingslager, Gefängnis, Psychiatrie) oder sich verstecken (→ Untergrundschulen). Manchmal findet der Unterricht auch in Privatwohnungen statt. Um die Schulen mobil zu machen, werden Schiffe, Busse, Wohnwagen, Container oder Zelte genutzt, in die ein zumindest rudimentäres Klassenzimmer eingebaut wird. Besser ausgestattete Lernmobile verfügen sogar über eine kleine Bibliothek, eine didaktische Materialiensammlung und Laptops. Die Lehrkräfte fahren dorthin, wo sich die Schulpflichtigen gerade aufhalten (Standplätze, Weidegründe, Plantagen, Bootsanlegestellen).
Manche Schülerinnen und Schüler haben die Normalschule so verletzend, gar traumatisierend erlebt, dass sie sich verweigern, in eine Einrichtung zu gehen, die als Schule erkennbar ist. Daher darf in der architektonischen Gestaltung nichts an ein Schulgebäude erinnern, wenn solche jungen Menschen erreicht werden sollen: „If it looks like school and smells like school they won’t come” [The McCreary 2008, 48]. Deshalb werden Bauernhöfe, stillgelegte Fabrikgebäude, ehemalige Kasernen, unscheinbare Bürohäuser, hässliche Gewerbegebäude, ein früheres Ladengeschäft mit Schaufenstern in der Innenstadt oder auch mal ein kleines Barockschloss zu Lernorten umgebaut. Hin und wieder verweist der gewählte Name für die Einrichtung auf die ursprüngliche Nutzung („Honigfabrik“). Arbeitsweltorientierte Jugendschulen sehen wie kleine Firmen aus: Auf dem ‚Schulgelände‘ parken neben den privaten Pkws der Lehrkräfte oder den Mofas der Jugendlichen auch Lieferwagen, Bau- oder landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge, dort ist Holz gestapelt, sind Metallteile und Schrott gelagert, Paletten abgestellt, Maschinen in Garagen und Baracken aufgestellt. Es gibt zumeist keine Unterrichtsräume, schon gar kein „Lehrerzimmer“, dafür aber Aufenthalts- oder Pausenräume mit schlichten Einbauküchen und Kaffeemaschinen, die die Lehrkräfte und die Jugendlichen, wie auch die Raucherecken, gemeinsam nutzen.
Etliche der in das Lexikon aufgenommenen Schulen haben ihre Ursprünge hingegen in totalen Institutionen, es waren Zwangsanstalten mit Mauern, Zäunen und Überwachungsanlagen, oftmals bestand das „pädagogische“ Konzept im Wesentlichen aus Erziehung durch Zwangsarbeit. Das Ziel der Umwandlung in offene Einrichtungen ist häufig ein Auslöser zur Entwicklung eines neuen Schulkonzepts, doch auch für diese muss verhindert werden, dass sie „offene“ Ghetto-Schulen werden. Die Bildungsstätten müssen sich deshalb zu anderen lebensweltlichen Kontexten, sozialen Gruppen oder gesellschaftlichen Institutionen hin offen halten. Das ist allerdings nicht so leicht. Beispielsweise müssen die Akzeptanzprobleme in Nachbarschaften bearbeitet werden, denn schon geschlossene Gefängnisse, psychiatrische Kliniken oder Unterkünfte für Geflüchtete stoßen häufig auf Ablehnung, und aufgrund von Ängsten oder auch Fremdenfeindlichkeit werden offene Einrichtungen für solche Gruppen im Wohnquartier erst recht bekämpft. Entsprechend schwierig, bei jungen Delinquenten oder Suchtkranken nahezu unmöglich, ist es auch, dass diese einrichtungsnah die öffentlichen Schulen besuchen können. Und empfinden es junge Inhaftierte wirklich als „Inklusion“, wenn sie mit elektronischen Fußfesseln im Unterricht der Regelschule sitzen oder wegen ihnen gar ein Wachmann vor dem Klassenzimmer steht, der sie, für alle sichtbar, auch zur Schule und dann zurück zur Einrichtung bringt?
In ihrer Größe liegen die Speziellen Schulen zumeist zwischen Zwergschulen und Schulfabriken. Unterricht im (→) Homeschooling oder in Zirkusschulen findet eher in „Kleinstschulen“ statt, was für das Lernen nicht immer günstig ist. Wenn nur drei, vier Kinder zusammen unterrichtet werden, die womöglich auch Geschwister sind und sich im Alltag rund um die Uhr sehen, können sich diese Kinder und Jugendlichen wohl kaum in solch winzigen Lerngruppen wechselseitig genügend Anregungen geben – und die Lehrkraft ist dann die einzige Person, die für neue Impulse in der Gruppe sorgt. Demgegenüber kommen viele Kinder und Jugendliche mit den mehrzügigen und anonymen öffentlichen Regelschulen nicht zurecht, die oftmals über tausend Schülerinnen und Schüler und mehr als einhundert Lehrkräfte haben – solche „Mega-Schulen“ lehnen manche Heranwachsende ab. Spezielle Schulen verfügen zumeist über 50, selten sind es mehr als 100 Plätze. Das scheint für viele Lernenden eine optimale Gruppengröße zu sein, in der sie sich einigermaßen wohlfühlen.
Die Normalschule organisiert die Schulzeit überwiegend in standardisierten Temporalstrukturen, die jedoch nicht für alle Schülerinnen und Schüler günstig sind: Unterricht wird an fünf aufeinander folgenden Werktagen erteilt, durchgeführt in ein oder zwei Schichten mit täglich fünf, maximal acht Stunden Aufenthalt im Schulgebäude, und das etwa zehn ebenfalls aufeinanderfolgende Jahre lang, unterbrochen allerdings durch viele Ferienblöcke. Angepasst an die vorherrschende Zeitgliederung der Arbeitswelt – insbesondere den Bürozeiten – und damit der häuslichen Abwesenheit der Eltern, beginnt der Unterricht weltweit gegen acht Uhr morgens und endet zur Mittagszeit oder immer häufiger im Ganztagsbetrieb erst am Nachmittag. Nur in extrem heißen Regionen der Welt fängt die Schule morgens deutlich früher an oder es werden nach einer sehr langen Mittagspause die etwas kühleren Abendstunden genutzt. Da manche Eltern früher mit der Arbeit beginnen oder länger in der Firma sein müssen, wird in den Schulen manchmal eine Früh- oder Spätbetreuung angeboten, wie insbesondere die Diskussionen um die Ganztagsschule „nahezu ausschließlich aus der Sicht der Erwachsenen geführt werden“, um zuvörderst berufstätige Eltern zu entlasten [Toppe 2005, 141].
Viele der im Lexikon beschriebenen Schulen folgen diesem zeitlichen Standardmodell. In manchen Schulkonzepten wird aber gerade eine grundlegende Veränderung der Lernzeiten vorgenommen, damit Kinder und Jugendliche schulische Bildung überhaupt nutzen können: Das kann die Tageszeiten betreffen, sodass beispielsweise der Unterricht in den Nachtstunden angeboten wird (→ Nachtschulen), weil sich dies mit der Kinderarbeit nicht anders vereinbaren lässt. Es bezieht sich auch auf die Jahreszeiten, weil Schule nur stattfinden kann, wenn in der Landwirtschaft nicht viel zu tun ist (→ Winterschulen) oder Halbnomaden saisonal in einem stationären Lager sind (→ Zeltschulen). Unterricht in der (→) Klinik oder im (→Hospiz) ist nur möglich, wenn der körperliche oder mentale Zustand der Kinder und Jugendlichen dies erlaubt.
Nach längeren Unterbrechungen der regelmäßigen Unterrichtsteilnahme, aufgrund von Flucht oder Absentismus, werden spezielle Lernsettings notwendig, um einen Wiedereinstieg in das Bildungssystem zu erleichtern: Einerseits ist mehr Schul-Zeit anzubieten (z.B. durch Schulpflichtverlängerung, Klassenwiederholung), andererseits ist zu ermöglichen, dass die individuelle Schul-Zeit beschleunigt oder verkürzt absolviert werden kann. Auch die Prüfungs-Zeit, eine besonders der bürokratisch-zweckrationalen Logik unterworfene Temporalform, muss oftmals verändert werden (Nachteilsausgleiche, Modularisierung). Mit solchen Flexibilisierungen tut sich ein flächendeckendes gesellschaftliches Großprojekt wie das Schulsystem jedoch sehr schwer.
Oftmals ist die curriculare Zeit aus pädagogischen Erwägungen oder organisatorischen Notwendigkeiten gestrafft. Die Stundentafel ist häufig stark reduziert, dies muss nicht problematisch sein, denn zwei intensive Unterrichtstage können für das Lernen effektiver sein als eine vertrödelte Schulwoche. Typisch ist die Konzentration auf die sogenannten Kernfächer, also Sprache und Mathematik, manchmal ergänzt durch ein erweitertes Unterrichtsangebot zur zusätzlichen Förderung oder Prüfungsvorbereitung, insofern die personellen Möglichkeiten hierfür gegeben sind, sowie Zusatzunterricht via Internet und E-Mail. In lebenslagenorientierten Schulkonzepten wird hingegen das Curriculum in Bezug auf die Alltagsthemen der Kinder und Jugendlichen inhaltlich und vor allem zeitlich erweitert. Denn wenn sich im erschwerten Alltag (wieder) übersichtliche und verlässliche Strukturen herstellen lassen, dann kann auch wieder Selbstvertrauen und Lebensmut gewonnen werden. Die Schulen werden somit sehr viel Unterrichtszeit „investieren“, um vielfältig benachteiligte Schülerinnen und Schüler angemessen zur Bewältigung ihrer Alltagsprobleme zu befähigen, subjektiv befriedigende Entwürfe zur Gestaltung ihres Alltags zu entwickeln und umzusetzen. Die Speziellen Schulen haben hierfür besonders gute Voraussetzungen, weil sie sehr dicht an den Lebenswelten und Lebenslagen der Schülerinnen und Schüler dran sind. [Schroeder 2020]
Schroeder, Joachim (2020): Alltagsvorbereitung. In: Heimlich, Ulrich; Wember, Franz. W. (Hrsg.): Didaktik des Unterrichts bei Lernschwierigkeiten. Stuttgart: Kohlhammer, 333-344. – The Mc Creary Centre Society (2008): Making the Grade: A review of Alternative Education Programes in British Columbia. Vancouver: The McCreary Centre Society. – Toppe, Sabine (2005): Soziale Ungleichheit in der Schule. Neue Chancen für Kinder und Eltern in der Ganztagschule? In: Spies, Anke; Stecklina, Gerd (Hrsg.): Die Ganztagsschule. Band 1, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 130-148.