Reflexionen
Das Lexikon fasst in mehr als fünfzig Artikeln die wichtigsten Fakten zum jeweiligen Schulkonzept in seiner historischen Entwicklung und weltweiten Ausdifferenzierung knapp zusammen.
Versäulung und Vernetzung
Sowohl im allgemeinen als auch im beruflichen Bildungswesen müssen Regel-, Sonder- und Spezielle Schulen zueinander in ein institutionelles Verhältnis gesetzt werden, dies kann jedoch in sehr unterschiedlicher Weise und Intensität geschehen.
Manchmal gibt es keinerlei Verbindung der Jugendhilfeschule zu den beiden anderen Teilschulsystemen. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn Kinder und Jugendliche, deren Eltern und Familien, gar größere ethnische, religiöse bzw. kulturelle Gruppen sich in ihrem Selbstbestimmungsrecht eingeschränkt fühlen oder der Staat ihnen den Zugang zur öffentlichen Schule und somit das Bildungsrecht verwehrt. In Deutschland wurden noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts viele Mädchen und junge Frauen vom Bildungssystem ausgeschlossen; erst 1964 wurden in der (alten) Bundesrepublik ausländische Schülerinnen und Schüler in das (deutsche) Schulsystem aufgenommen; Kinder und Jugendliche mit einer schweren Behinderung, die einen hohen Pflegebedarf haben, sind ab Mitte der 1970er Jahre zum allgemeinen Bildungswesen zugelassen, seit ca. 2013 auch geflüchtete Kinder und Jugendliche ohne einen gesicherten Aufenthaltsstatus. Aufgrund dieser schulrechtlichen Ausschlüsse gab es immer auch Spezielle (Ersatz-)schulen, um den exkludierten Gruppen einen Zugang zu formaler schulischer Bildung zu ermöglichen. [Hansen 2003]
Häufig entsteht ein Parallelsystem, mit der Gefahr einer institutionellen Versäulung, die sich dann zumeist nur schwer wieder öffnen lässt. Wer in der „ersten Säule“ der staatlichen allgemeinbildenden Schule nicht gehalten werden kann, der kommt in die „zweite Säule“ der ebenfalls noch von der Schulaufsicht verantworteten Fördersysteme, beispielsweise Schulen bei Lernbehinderungen oder Verhaltensstörungen. Wenn es auch dort nicht besser wird, erfolgt der Wechsel in die „dritte Säule“ der Jugendhilfeschulen. Das zweite und dritte Teilsystem ist zumindest in Deutschland im Prinzip der „Durchgangsschule“ konzipiert, d.h., die Schülerinnen und Schüler sollen dort nur zeitlich begrenzt betreut werden und dann wieder in die Regelschulen zurückkehren. Die Re-Inklusion bleibt aber die Achillesverse des Säulensystems, sehr oft gelingt die Rückführung nicht. [Schule leiten 2017]
Mit einem organisatorischen Verbund lässt sich eine gewisse Durchlässigkeit zwischen den drei Säulen erreichen. Es können Schulstufen zu kooperativen Bildungsgängen verknüpft werden (chronologisch, vertikal) oder man vernetzt verschiedene Einrichtungen arbeitsteilig und konzeptionell (sozialräumlich, horizontal). Bereits häufiger werden allgemein und berufsbildende Angebote verbunden, denn der Übergang von der Schule in die Arbeitswelt ist eine institutionelle Nahtstelle, an der viele sozial benachteiligte Jugendliche scheitern und dann in Ersatzschulen wie (→) Produktionsschulen aufgefangen werden müssen. Es gibt inzwischen elaborierte Konzepte, mit denen sich in Kooperation zwischen den Schulen, zusammen mit Betrieben und der Jugendberufshilfe, ergänzt oftmals durch Migrationssozialarbeit, relativ gut verdichtete Bildungsgänge schaffen lassen. Auch im klinischen Bereich finden sich entsprechende Beispiele, in denen Schule, Jugendhilfe und Therapie mit stationären bzw. ambulanten Angeboten kooperieren. Im Jugendstrafvollzug oder im Bereich Flucht und Asyl werden ebenfalls sozialräumliche Handlungsverbünde entwickelt. [Maykus et al. 2017]
Eine Herausforderung bleibt die strukturelle Verstetigung der Kooperation zwischen den drei Teilsystemen. Dazu bräuchte es entsprechende gesetzliche Regelungen, aber nur wenige Bundesländer, Regierungsbezirke oder Landkreise haben Vereinbarungen zur Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe getroffen, die über Schulsozialarbeit und Ganztagsschulen hinausreichen. In die nationale Bildungsberichterstattung oder in die der einzelnen Bundesländer sind die Speziellen Schulen oftmals nicht einbezogen, Bildungsmonitoring der Kommunen, Länder und des Bundes fokussiert fast ausschließlich auf das allgemeine und berufliche Regel- und Sonderschulsystem. Die Schulbehörden in Deutschland sind gesetzlich verpflichtet, in Schulentwicklungsplänen den kurz-, mittel- und langfristigen Bedarf an personellen, sächlichen und räumlichen Ressourcen aufzuzeigen – auch in diesen Planungen fehlt die „dritte Säule“ oftmals. Solche Berichte könnten übergangene soziale Gruppen und deren Bildungsbedürfnisse ins öffentliche Bewusstsein heben, verborgene Bedarfe identifizieren und strukturelle Unzulänglichkeiten skandalisieren, vernachlässigte Sozialräume erkennen sowie wohnort- und lebensweltnahe Unterversorgungen und hinderliche Barrieren aufspüren, die die Zugänglichkeit und Inanspruchnahme, den Verbleib und/oder den Anschluss zur schulischen Bildung erschweren. [Bartelheimer 2001]
Die in diesem Lexikon beschriebene Bildungsarbeit findet nicht nur in öffentlichen, sondern auch in privaten, gewerblichen oder gemeinnützigen Organisationen statt: Bürokratische Institutionen, zu denen auch die Schulen zählen, werden durch Verwaltungshandeln definiert und setzen Steuerungsinstrumente für den zweckrationalen Einsatz von Ressourcen ein. Wertrationale Institutionen sind Einrichtungen der Kirchen, Moscheevereine oder Wohlfahrtsverbände, die auf der Grundlage konfessioneller, weltanschaulicher oder politischer Orientierungen den „ganzheitlichen“ und „auf den Mensch“ bezogenen Einsatz von Ressourcen betonen. Nicht-staatliche Organisationen mit einer privatwirtschaftlichen Rechtsform der Gemeinnützigkeit (z.B. gGmbH, Stiftungen, Vereine) wollen Ressourcen unter dem Credo der Parteilichkeit und Solidarität mit diskriminierten Menschen oder Gruppen „umverteilen“, oftmals pflegen sie eine oppositionelle – „kritische“ – Haltung zu staatlichen Institutionen. Gewerbliche Unternehmen streben nach Gewinnmaximierung, es gibt aber auch eine lange Debatte um die soziale Verantwortung der Wirtschaft. In der Verknüpfung der Schulen mit solchen organisatorischen Entitäten sind folglich Ziel-, Werte- und Entscheidungskonflikte gleichsam auf Dauer gestellt. Deshalb braucht es geregelte Verbindlichkeiten der Zusammenarbeit, z.B. in Form von zeitlich begrenzten Kooperationsverträgen, die indes wiederum durch Machtgefälle der beteiligten Mitglieder gekennzeichnet sind, denn je nach institutionellem Typus variieren die Formen der legitimierten Eingriffsmacht, die Spielräume der Inanspruchnahme, die Instrumente zur Sicherung der Akzeptanz, die Techniken der Kontrolle oder die Verfügbarkeit von Ressourcen usw. [Lenhardt 1984; Homann 2018]
Verbünde basieren entsprechend auf vielfältigen Finanzierungsformen: Staatliche Vollfinanzierung (eher selten), Projektförderung (aus zeitlich begrenzten Landes-, Bundes- und EU-Programmen), Fallförderung (Kostenträgerprinzip), Anschubfinanzierungen (zumeist durch Stiftungen), eigene Einnahmen (Vermarktung von Produkten oder Dienstleistungen), Schulgebühren (nur begrenzt erlaubt), Spenden, ehrenamtliche Unterstützung – de facto sind es zumeist komplexe Mischfinanzierungen. Für eine Verstetigung braucht es jedenfalls eine gerechte Verteilung der Mittel. Allerdings sind viele Spezielle Schulen in Trägerform organisiert, sodass sie den Regel- und Sonderschulen rechtlich nicht gleichgestellt sind, sondern unter Projektbedingungen arbeiten. Beispielsweise erhalten sie von der Behörde nur ein Grundbudget und müssen notwendige Mittel, manchmal sogar die gesamte Finanzierung, immer wieder auch in Bundes- bzw. EU-Programmen beantragen. Wenn es jedoch so wäre, dass Sonderschulen geschlossen und stattdessen mehr Spezielle Schulen eingerichtet werden, dann ist es nicht hinzunehmen, diese notwendigen Bildungseinrichtungen schulrechtlich und in der Ressourcenzuweisung so stiefmütterlich zu behandeln [Deutscher Bundestag 2018].
Außerdem sind vorausschauende Vorkehrungen zu treffen. In manchen Bundesländern haben die Schul- und Sozialbehörden gelernt, dass man nicht alle Unterkünfte und Lerngruppen für Geflüchtete wieder schließen sollte, die ab 2015 eingerichtet wurden, auch wenn die Zahlen der Neueinreisenden rückläufig sind – denn die nächste „Flüchtlingskrise“ kommt bestimmt und es wäre somit gut, wenn man dann eine erprobte Struktur wieder rasch „hochfahren“ kann. Der Umgang mit Corona zeigte, dass das Bildungssystem 2020 auch auf Pandemien überhaupt nicht vorbereitet war, obwohl das Infektionsschutzgesetz bereits im Jahr 2000 anlässlich der weltweiten HIV/Aids-Pandemie erlassen wurde und die Folgen des Gesetzes für die Organisation schulischer Bildung intensiv diskutiert worden waren. An die damals entwickelten Pandemiepläne für die Schulen erinnerte sich in der Covid-Pandemie kaum mehr jemand. Das allgemeine Schulsystem hätte ebenso von den (→) Fern- und Webschulen lernen können, dass synchroner und asynchroner virtueller Unterricht ein elaboriertes schulisches Erziehungs- und Bildungskonzept gerade für schwierige Lebenslagen ist, dass den Präsenzunterricht gut ergänzen oder sogar in Krisenzeiten ersetzen kann. [Böckmann 2001]
Bartelheimer, Peter (2001): Sozialberichterstattung für die „soziale Stadt“: Methodische Probleme und politische Möglichkeiten. Frankfurt am Main: Campus-Verlag. – Böckmann, Anja (2001): Die rechtliche Problematik von HIV und Aids an öffentlichen Schulen. Frankfurt am Main: Peter Lang. – Deutscher Bundestag – Wissenschaftliche Dienste (2019): Struktur und Finanzierung von Organisationen, die im Rahmen von Jugendarbeit tätig sind. Berlin: WD 9 -3000 -005/19. – Hansen, Georg (2003): Pluralitätsrhetorik und Homogenitätspolitik. In: Goglin, Ingrid et al. (Hrsg.): Pluralismus unausweichlich? Blickwechsel zwischen Vergleichender und Interkultureller Pädagogik. Münster: Waxmann Verlag, 59-73. – Homann, Karl (2018): Ethik in der Wirtschaft. Sollten Unternehmen neben einer öknomischen auch eine soziale Verwantwortung haben? In: ifo Schnelldienst 71 (24), 3-6. – Lenhardt, Gero (1984): Schule und bürokratische Rationalität. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – Maykus, Stephan; Beck, Anneka; Eikötter, Mirko; Sanabria, Antonia M. (2017): Inklusive Bildung in der Kommune. Empirische Befunde zu Planungs- und Beteiligungsmodellen zwischen Schule und Kinder- und Jugendhilfe. Weinheim und Basel: Beltz Juventa. – Schroeder, Joachim; Shah Hosseini, Negin (2025): Hürdenläufe im Spagat? Übergangsgestaltung an den institutionellen Schnittstellen institutioneller Bildung. In: Schreiber-Barsch, Silke; Curdt, Wiebke; Stang, Richard (Hrsg.): Inklusive Lernwelten. Berlin: DeGruyter, S. 209–219. – Schule leiten (2017): Themenheft: Übergänge – Mind the gap! Ausgabe Nr. 8. Seelze: Friedrich Verlag.