Schule in der Psychiatrie

In Deutschland gibt es ca. 150 klinische Fachabteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP), in denen ca. 70.000 Heranwachsende im Alter bis maximal 21 Jahre mit psychischen, psychosomatischen und neurologischen Erkrankungen oder Störungen (z.B. Ess-Störungen, Suchterkrankungen, Autoaggressives Verhalten, Mutismus) behandelt werden. In den vergangenen Jahren ist die KJP hinsichtlich ihrer Funktionsbereiche erheblich ausdifferenziert worden, sodass neben traditionellen stationären Einrichtungen u.a. heilpädagogisch-therapeutische Ambulanzen und Tageskliniken geschaffen wurden. Entsprechend vielfältig ist auch die Organisation der Beschulung, die von speziellen Schulen, die an Kliniken angegliedert sind bis hin zu externen Einrichtungen, die für ein großes Einzugsgebiet zuständig sind oder die an mehreren Standorten in einem Stadtgebiet Klinken und medizinisch-therapeutische Krankenhäuser mit Unterrichtsangeboten versorgen. [Libal/Blaumer 2020] Für drogenkonsumierende Jugendliche gibt es zumeist spezielle (→) Schulen bei Suchtproblemen.

Tendenziell sind psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen aus prekären Lebenslagen und unteren sozialen Milieus stärker vertreten. Diese Personengruppe zeigt häufiger psychische, soziale und emotionale Auffälligkeiten und verfügt eher über problembelastete Lebensläufe als Gleichaltrige aus den mittleren Schichten. Letztgenannte Gruppe wird bei einem psychischen Zusammenbruch jedoch eher in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen als Kinder und Jugendliche aus randständigen Milieus, die vornehmlich in Heimen oder Hilfsmaßnahmen untergebracht werden. Begründet wird dies durch ein gesellschaftliches und institutionelles Abhängigkeitsverhältnis zwischen Verhaltensbewertung und sozialem Herkunftsmilieu [Hensel 2017].

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Die KJP ist umstritten, weil eine ärztliche, behördliche oder gerichtliche Einweisung erfolgen muss, wenn eine akute und erhebliche Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt und die Erkrankten oder ihre Umgebung durch weniger einschneidende Maßnahmen nicht mehr geschützt werden können. Im SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) ist die Geschlossene Unterbringung gar nicht mehr und freiheitsentziehende Maßnahmen sind nur in dem zeitlich sehr kurzen Rahmen der Inobhutnahme nach § 42 Abs. 5 vorgesehen. Die stationären Maßnahmen werden auf Grundlage des § 34 SGB VIII erbracht. Die Kinder- und Jugendhilfe ist geprägt durch zwei unversöhnliche Positionen: Die einen lehnen die Zwangseinweisung kategorisch ab, die anderen gehen davon aus, dass die zeitweilige pädagogische Betreuung in einer geschlossenen Gruppe eine angemessene Form der Intervention sein (kann) [AGJ 2015; Häbel 2016].

Ein wesentlicher Auftrag der KJP ist die „Entpsychiatrisierung“ von Biographien im Kindes- und Jugendalter durch frühzeitige und hinreichend intensive Bemühungen um eine vollständige Wiedereingliederung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher in eine altersgerechte Alltagsnormalität. Psychosoziale Desintegration und Ausgrenzung sowie eine Stigmatisierung von Minderjährigen durch „psychiatrische“ Institutionen muss abgewendet werden. Verschiedene Lebensbereiche müssen miteinander integriert und die Übergänge zwischen ihnen bewältigt werden. Ein wesentlicher Grundgedanke ist deshalb, die Bereiche Schule, persönlicher Alltag, Versorgung, Freizeit und therapeutische Begleitung in einem gemeinsamen Konzept zu integrieren. [www.schups.org]

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Im Falle einer stationären Behandlung in einer KJP ist der Besuch der Stammschule aufgrund der Erkrankung und des institutionellen Settings der Kliniken i.d.R. nicht möglich. Die Schüler und Schülerinnen werden dann in der Schule einer psychiatrischen Klinik unterrichtet, deren formale Zuständigkeit mit der Entlassung aus der KJP endet. Der Übergang von der KJP bzw. Klinikschule in das allgemeine Bildungssystem ist damit strukturell vorgegeben.

Die mit dem Übergang und der prekären Lebenslage von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen einhergehenden Anforderungen können viele von ihnen ohne Unterstützung jedoch kaum bewältigen. Klinikschulen haben somit nicht nur einen Bildungs- und Erziehungsauftrag, sondern sind angehalten, zusätzlich pädagogische Unterstützungsangebote zur Bewältigung insbesondere der Rückkehr in den Alltag und in die Schule bereit zu stellen. [Harter-Meyer 2000; Hoanzl et al. 2009]

Viele Kinder und Jugendliche mit einer psychischen Erkrankung haben negative Erfahrungen in und mit Schule gemacht. Bereits vor der Aufnahme in eine KJP führen der gesundheitliche Zustand und strukturelle Barrieren häufig zu unregelmäßigen Beschulungszeiten oder Schulabstinenz. Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen sind zusätzlich mit strukturellen Diskriminierungen in Bildungseinrichtungen, dem Arbeitsmarkt und dem Versorgungssystem sowie mit Stigmatisierungs- und Marginalisierungsprozessen konfrontiert. Zugleich werden sie u.a. seitens der Schule mit Erwartungen und Anforderungen von außen konfrontiert. Besonders bei Kindern und Jugendlichen ohne verlässliches und unterstützendes Umfeld gelingt die Reintegration oft nicht. Der Übergang von der KJP in das Bildungssystem stellt daher für einen Teil der Kinder und Jugendlichen eine große Hürde dar und der Bildungsgang ist nicht nur nach Einsetzen der Krankheit vor dem KJP-Aufenthalt, sondern auch weiterhin nach der Entlassung aus der Klinik gefährdet. [Hirsch-Herzogenrath et al. 2012; Hensel 2017]

In § 35 SGB VIII ist eine intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung und Unterstützung von Jugendlichen zur sozialen Integration und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung vorgesehen. Kinder und Jugendliche mit einer psychischen Erkrankung, die sich zu einer seelischen Behinderung chronifizieren kann, erhalten nach § 35a Eingliederungshilfen, weil Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.

Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall in ambulanter Form, in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen, durch geeignete Pflegepersonen und in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen geleistet.

Solche „hochstrukturierten“ Einrichtungen für psychisch belastete Kinder und Jugendliche in Trägerschaft der Jugendhilfe sind ebenfalls umstritten, da die Unterbringung in der Regel auf längere Zeit angelegt ist, in ihnen überwiegend auch die Beschulung stattfindet und sie somit den Charakter einer geschlossenen Einrichtung haben. Fachlich ist eine solche intensivpädagogische Unterstützung am ehesten wirksam, wenn sie einzelfallorientiert ist, Kontinuität bietet, von Betroffenen als passend erlebt und vom Umfeld ausgehalten werden kann, konfliktsicher, belastbar und verstehend orientiert ist sowie konsequent das Herkunftsmilieu einbezieht. [Baumann 2019]

AGJ - Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (2015): Freiheitsentziehende Maßnahmen im aktuellen Diskurs. Konsequenzen für die Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung. Diskussionspapier. Berlin: AGJ. – Baumann, Menno (2019): Kinder, die Systeme sprengen: Band 2: Impulse, Zugangswege und hilfreiche Settingbedingungen für Jugendhilfe und Schule. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.Häbel, Hannelore (2016): Das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung und seine Bedeutung für die Zulässigkeit körperlichen Zwangs in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Rechtsgutachten. In: Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe (ZKJ), Teil 1 Heft 5/2016, 168-173, Teil 2 Heft 6/2016, 204-211. – Harter-Meyer, Renate (Hrsg.) (2000): Ein Ritt über den Bodensee. Unterricht mit seelisch belasteten Schülerinnen und Schülern. Münster: LIT. – Hensel, Tobias (2017): „Bei denen ist erstmal gar nicht an Schule zu denken.“ Unterstützung von Bildungs- und Bewältigungsprozessen in Klinikschulen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. In: Schroeder, Joachim; Seukwa, Louis Henri (Hrsg.): Soziale Bildungsarbeit mit jungen Menschen. Handlungsfelder, Konzepte, Qualitätsmerkmale. Bielefeld: transcript, 183-208. –Hirsch-Herzogenrath, Silke; Schleider, Karin (2012): Schulische Reintegration psychisch kranker Kinder und Jugendlicher. Empirische Studien am Beispiel der ausgewählten Bundesländer Baden-Württemberg und Hessen. Freiburg: Kovač. – Hoanzl, Martina; Baur, Werner; Bleher, Werner; Thümmler, Ramona; Käppler, Christoph (2009): Unterricht in psychiatrischen Kliniken. In: Günther Opp und Georg Theunissen (Hrsg.): Handbuch schulische Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 404–411. – Libal, Gerhard, Blaumer Dorothèe (2020): Kinder- und Jugendpsychiatrie und Schule. In: Kölch, Michael; Rassenhofer, Miriam; Fegert, Jörg (Hrsg.): Klinikmanual Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Berlin: Springer, 705-709.