Schulen für Kranke
Kinder und Jugendliche, die aufgrund von körperlichen Erkrankungen oder Unfällen für längere Zeit oder in regelmäßigen Abständen im Krankenhaus untergebracht werden oder zuhause bleiben müssen, sind auch während einer langwierigen und schweren Behandlung schulpflichtig. Vom Gesetzgeber ist somit das Bildungsrecht der erkrankten Schülerinnen und Schüler sichergestellt. Auch wenn die Erziehung und Bildung durch die Erkrankung beeinträchtigt sein können, bietet der Unterricht die Möglichkeit, trotz Krankheit mit Erfolg zu lernen. Befürchtungen, in den schulischen Leistungen in Rückstand zu geraten, werden vermindert. Unterricht kann auch die physische und psychische Situation des kranken Kindes oder Jugendlichen erleichtern, von der eigenen Krankheit ablenken und den Willen zur Genesung stärken. Zieht sich die Erkrankung sehr lange hin, ist Unterricht eine wichtige Voraussetzung für die Teilnahme am Leben der Gemeinschaft. [Theis 1991; Frey/Wertgen 2012]
Die konkrete Umsetzung der Beschulung während einer längeren Erkrankung richtet sich nach den jeweiligen Bestimmungen der einzelnen Bundesländer. Entsprechend vielfältig sind die Modalitäten der Antragsstellung, die Regelungen zum zeitlichen Umfang des Unterrichts sowie die Vorgaben, welche Lehrkraft ihn erteilen darf und an welcher Örtlichkeit dies zu geschehen hat usw. Grundsätzlich lassen sich jedoch zwei Organisationsformen unterscheiden, in denen die Beschulung erkrankter Kinder in aller Regel erfolgt: Der Krankenhausunterricht und der Hausunterricht. In den meisten Bundesländern kommen beim einzelnen Kind beide Beschulungssettings in einem zeitlichen Nach- und Nebeneinander zur Anwendung. [Wienhaus 1979]
Beim Krankenhausunterricht wird den erkrankten Schülerinnen und Schülern von hierfür beauftragten und zugewiesenen Lehrkräften der Unterricht in der Klinik erteilt. Ebenso ist es möglich, dass die einer Kinderklinik benachbarte Schule mit der Durchführung eines entsprechenden Unterrichts für schulpflichtige Kinder und Jugendliche beauftragt wird. Da der Unterricht im Krankenhaus und während der Behandlungsdauer erteilt wird, verwendet man in einigen Bundesländern auch die Bezeichnung Bettenunterricht. Ihn bekommen Schülerinnen und Schüler, die absehbar am regulären Schulunterricht für mindestens vier Wochen (wie beispielsweise in Niedersachsen) oder mehr als acht Wochen (Nordrhein-Westfalen) nicht teilnehmen können. Je nach Schulstufe, Schulart und Bundesland erhalten die Kinder und Jugendlichen zwischen vier und maximal zwölf Unterrichtsstunden pro Woche. Da die ärztliche Behandlung und medizinische Versorgung den Vorrang haben, unterscheidet sich der Unterricht, was den Umfang und die Lehr-Lern-Verfahren betrifft, erheblich von den Regelschulen. Es ist überwiegend Einzelunterricht, in größeren Kliniken kann auch in Kleingruppen gelernt werden. Sonderschul-, Fach- oder Stufenlehrkräfte werden zur Erteilung des Krankenhausunterrichts abgeordnet. Der Unterricht orientiert sich an den jeweiligen gültigen Bildungs- und Lehrplänen der für die erkrankten Schüler zutreffenden Klassenstufe. In einigen Bundesländern gibt es für die Beschulung kranker Kinder und Jugendlicher eine eigenständige Schulform. Die Bezeichnungen für diese krankenpädagogische Sonderschule sind sehr vielfältig: Schule für Kranke, Klinikschule, Krankenhausschule, Heilstättenschule (in Österreich) und Spitalschule (in der Schweiz). Manchmal werden auch Sonderschulklassen an Kinderkliniken eingerichtet, die im so genannten „Filialmodell“ anderen Sonderschulen angegliedert sind und somit eigenständige Klinikschulen ersetzen. Unterrichtsziel ist es, den Anschluss an den Unterrichtsgang zu erhalten oder wiederzugewinnen. Deshalb soll auch zur Schule des Wohnortes des Kindes Kontakt gehalten werden, damit eine Abstimmung über pädagogische Fragen gesichert wird und es sich weiterhin seiner Klasse zugehörig fühlen kann. Zu den pädagogischen Arbeitsfeldern mit erkrankten Kindern und Jugendlichen gehören stoffbezogener Unterricht (Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen), musisch und spielerische Aktivitäten, Angebote zur Auseinandersetzung mit der Krankheit und ihrer Bedrohlichkeit (Rollenspiele, Buchbetrachtungen, Gespräche) sowie die Zusammenarbeit mit Familienangehörigen des erkrankten Schülers einschließlich der Kooperation mit der Herkunftsschule. [Wienhaus 1979; Schroeder et al. 1996; Pfeiffer et al. 1996]
Während der Therapiepausen sowie einige Wochen nach schweren klinischen Behandlungen können Kinder und Jugendliche oftmals gar nicht, in Ausnahmefällen nur für einige Stunden oder an einzelnen Tagen zur Schule gehen. In dieser Zeit haben sie Anspruch auf den so genannten (→) Hausunterricht. Die Organisation und Durchführung regelt die zuständige Schulaufsichtsbehörde. Zumeist wird die Schule am Wohnort beauftragt, in einigen Regionen und vor allem in den Großstädten auch die Klinikschule. In manchen Bundesländern muss der Hausunterricht von den Erziehungsberechtigten beantragt werden, zumeist ist hierfür eine ärztliche Bescheinigung erforderlich. Je nach Bundesland, Schulstufe und Schulform sind für den Hausunterricht zwischen sechs und zwölf Wochenstunden vorgesehen. Der Hausunterricht hat eine entscheidende Bedeutung zur schulischen Reintegration nach Abschluss der Therapie.
Fast alle Kinder und Jugendlichen mit einer infausten Prognose möchten nach Hause, andere wählen ein (→) Kinder- oder Jugendhospiz. Grundsätzlich gilt auch bei unheilbaren Erkrankungen, dass das Kind, der Jugendliche unabhängig von den Schulleistungen zur Klasse gehört. Somit wird die Schule weiterhin Hausunterricht anbieten. Wenn die Mädchen und Jungen trotz der Gewissheit, bald zu sterben, dennoch Klinik- oder Hausunterricht erhalten wollen, kann dies aus zwei gegensätzlichen Motivationen heraus geschehen: Das Kind bzw. seine Familie kann die endgültige Prognose nicht wahrhaben wollen und verhält sich so, als ob es doch wieder in die Klasse zurückkehren oder gar einen Schulabschluss machen kann; es sind Kinder, die die Realität des Sterbens (noch) ablehnen. Es kann auch sein, dass das Kind sich dem eigenen Tod stellt, es will aber weiter lernen, weil es dabei Freude und Selbstbestätigung erfährt, oder weil es sich damit in Gesellschaft mit seinen Klassenkameraden weiß; denn ‚Schule machen’ heißt, noch zu leben. Manche Kinder und Jugendliche haben eine gute Beziehung zu ihren Mitschülern und fühlen sich so heimisch in der Klasse, dass sie nochmals in die Schule gehen wollen, um sich zu verabschieden, oder, wenn es die körperliche Verfassung erlaubt, bei einem Fest oder an einem Ausflug teilzunehmen. [Hiller-Ketterer/Schroeder 1997]
Frey, Hermann; Wertgen, Alexander (Hrsg.) (2012): Pädagogik bei Krankheit: Konzeptionen, Methodik, Didaktik, Best-Practice-Beispiele. Pabst Science Publishers. – Hiller-Ketterer, Ingeborg; Schroeder, Joachim (1997): Lektionen über das Leben. Zum Umgang mit Krankheit und Tod in der Schule. In: Die Deutsche Schule 89, 2, 203-215. – Pfeiffer, Ursula; Knab, Doris; Häcker, Werner; Klemm, Michael; Böpple, Eva (1996): Klinik macht Schule. Die Schule für Kranke als Brücke zwischen Klinik und Schule. Tübingen: Attempto. – Schroeder, Joachim; Hiller-Ketterer, Ingeborg; Häcker, Werner; Klemm, Michael; Böpple, Eva (1996): „Liebe Klasse, ich habe Krebs!“ Pädagogische Begleitung lebensbedrohlich erkrankter Kinder und Jugendlicher. Tübingen: Attempto. – Theis, Gebhard (1991): Krankheit und Krankenpädagogik. Köln: Edition Subsidiäre Intervention. – er Durchführung eines entsrpechenden Unterrichts für schulpflichtige Kidnerund Jugendliche beachtWienhaus, Jens (1979): Die Schule für Kranke: ihre Aufgabe in der pädagogischen und psychosozialen Betreuung kranker Kinder. Rheinstetten: Schindele.