Schulen für Sintizze und Romnja

Die schulischen Aktivitäten für Sintizze und Romnja beginnen Ende des 18. Jahrhunderts im Zeichen des aufgeklärten Absolutismus und finden zunächst im Kontext einer Assimilierungspolitik statt. Die österreichische Kaiserin Maria Theresia hatte sich zum Ziel gesetzt, die „Zigeuner“ sesshaft zu machen sowie zwangsweise zu assimilieren und hierfür auch die Schule zu nutzen. In ihren Regulationen von 1761 verbot sie den „Zigeunern“, Romani zu sprechen, sie förderte Mischehen, befahl, ihnen die Kinder wegzunehmen und diese Bauernfamilien zur Erziehung zu geben, und unterwarf sie dem Schulzwang. Die Schule war das Instrument, ihnen die eigene Kultur und Sprache zu nehmen, die Kinder ihren Familien zu entfremden und, wie es in einer Verordnung der markgräflich-badischen Verwaltung von 1782 ausgedrückt wurde, ihnen die „unerlaubte Lebensart“ auszutreiben. [Krause 1989]

Im Jahr 1828 gründet der Evangelische Missionsverein in Lohra bei Naumburg die „Zigeunerkolonie Friedrichslohra“. Die dort aus der Umgebung aufgenommenen Sintizze und Romnja, die zumeist von Bettelei lebten, mussten sich zu arbeitsamem, tugendhaftem und christlichem Lebenswandel verpflichten, sie sollten ihre Kinder der Anstalt zur Erziehung übergeben, die Wohnung reinhalten, das Umherschweifen sowie das Saufen, Toben oder gar Stehlen unterlassen und fleißig an den Morgen- und Abendandachten teilnehmen. Im Jahr 1831 besuchten dort 22 Kinder die Schule, ältere kamen zur weiteren Ausbildung nach Erfurt in das Marienstift, einer Unterrichts- und Erziehungsanstalt für verwahrloste Kinder. Der Versuch, die „Zigeuner“ zu „nützlichen Mitgliedern der preußischen Gesellschaft“ zu machen, misslang, Kinder wie Erwachsene verließen das Dorf. 1837 wurde Friedrichslohra aufgelöst, der Plan, andere „Zigeunerdörfer“ in Preußen zu gründen, wurde fallengelassen. [Hund 1996]

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Von der Reichsgründung 1871 an wird die Fürsorgepolitik zu einem zentralen Mittel der Vertreibung und Zerschlagung der Familienverbände. Der Nachweis eines festen Wohnsitzes wird zur Voraussetzung der Anerkennung  der preußischen Staatsbürgerschaft, diese war somit für „Zigeuner“ nur schwer zu bekommen. Reichskanzler Bismarck treibt das politische Ziel voran, die „inländischen Zigeuner“ an eine sesshafte Lebensweise zu gewöhnen, indem man ihnen den Wandergewerbeschein versagt. Demgegenüber werden die Behörden verpflichtet, „Zigeuner“ ohne deutsche Reichsangehörigkeit auszuweisen. Wer keinen festen Wohnsitz habe, sei in einem Arbeitshaus unterzubringen. Die schulpflichtigen Kinder seien von „den fraglichen Banden“ abzusondern und zum Schulbesuch anzuhalten. Die Durchsetzung der Schulpflicht scheiterte jedoch unter anderem daran, dass die Kinder in die Bildungsstätten häufig nicht aufgenommen wurden, weil man die Schulen „zigeunerfrei“ halten wollte. [Widmann 2001]

Zur Jahrhundertwende wird die „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ zur politischen Leitformel, und 1899 erlässt man ein Gesetz, das Minderjährige zwangsweise den staatlichen Fürsorgebehörden unterstellte, eine Maßnahme, die den Familien ihre Kinder entzog. Wollten diese ihre Kinder zurückhaben, mussten sie bestimmte Bedingungen erfüllen, beispielsweise die dauerhafte Niederlassung an einem Ort. Zudem wurde 1906 untersagt, die Kinder auf den Wanderungen vorübergehend am jeweiligen Aufenthaltsort zur Schule zu schicken. Der Kern dieser Bestimmungen blieb bis 1936 wirksam. Nachdem 1899 in München eine zentrale Polizeidienststelle gegründet wurde, deren Aufgabe die Erfassung und Überwachung der „Zigeuner“ war, erließ 1926 Bayern das „Gesetz zur Bekämpfung der Zigeuner, Landfahrer und Arbeitsscheuen“, das ermöglichte, Sinti mit deutscher Staatsangehörigkeit in so genannte „Arbeitshäuser“ einzusperren und die Kinder zwangsweise in Heime einzuweisen. [Krause 1989]

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Die Nationalsozialisten verfolgten zunächst Pläne zur Sesshaftmachung, dann zur Vernichtung der Sintizze und Romnja. Mit der Einführung des Reichsschulpflicht­gesetzes vom 6. Juli 1938, das für alle deutschen Kinder ab dem sechsten Lebensjahr den Besuch einer Schule vorschreibt, sind nun auch die jungen Sintizze – als „Zigeuner“ mit deutscher Staatsangehörigkeit – schulpflichtig. In allen Reichsteilen beginnt eine Diskussion über die Frage, wie diese Beschulung zu organisieren sei. Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volks­bildung stellt 1941 über die „Zulassung von Zigeunern und Negermischlingen zum Besuch öffentlicher Volksschulen“ jedoch klar, dass diese nicht mehr in die Volksschulen aufgenommen werden dürfen. Bereits ab 1937 gibt es Überlegungen, die „Zigeuner“ in großen Lagern unterzubringen und unter ständiger Aufsicht zu halten. Die Erziehung der Kinder müsse bereits im vorschulpflichtigen Alter beginnen, die eigentliche Schulpflicht sei auf fünf Jahre zu verkürzen, der Unterricht sei „nach Art und Umfang der Hilfsschularbeit zu geben“. Der Bau von „Zigeunerlagern“ wird eingestellt, als am 25.10.1939 ein Schnellbrief des SS-Sicherheitsamtes anordnet, dass alle „Zigeuner“ nach dem Osten abtransportiert werden. Ab Mai 1940 beginnt die Deportation der deutschen Sinti und Roma [Matras 1991; Roma-Union 1994].

In der DDR gab es etwa 600 Sintizze. Sie hatten einen festen Wohnsitz und waren zur Arbeit verpflichtet, eine Weigerung wurde mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft. Die Kinder waren schulpflichtig und besuchten zumeist die Hilfsschule, Romani wurde nicht unterrichtet. [Gilsenbach 1993]

In der Bundesrepublik wurde in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Signum „Bekämpfung der Zigeunerplage“ an die Politik des Kaiserreiches und der Weimarer Republik angeknüpft. Die Wohnwagen durften in den Städten nur auf zugewiesenen Plätzen aufgestellt werden, in manchen Orten wurden die Überlebenden aus den Konzentrationslagern in Barackensiedlungen untergebracht, wenn es nicht gelang, diese aus den Städten zu vertreiben. Dies verwies Sintizze und Romnja, fern jeder städtischen Infrastruktur auf unbefestigten Plätzen oder in provisorischen Baracken zu leben. Die elenden Verhältnisse bestärkten wiederum die öffentliche Meinung darin, dass „Zigeuner“ kein Interesse an einem bürgerlichen Leben hätten. Viele Schulen lehnten die Aufnahme der Kinder ab, da sie als verwildert, unsauber und mit Ungeziefer behaftet galten und der Widerspruch der bürgerlichen Elternschaft erwartet wurde. Die „Schule für Zigeunerkinder“ in Berlin bot zwischen 1977 bis 1985 als „mobile Schule“ Unterricht an den Standorten der Wohnwagen an [Mašková 1985; Wurr/Träbing-Butzmann 1998, Widmann 2001].

Nachdem in den Sechziger Jahren die Kirchen und Wohlfahrtsverbände auf die Missstände hingewiesen haben, reagierte in den 1970er Jahren nach und nach die Kommunalpolitik: In mehr als einhundert Städten in Westdeutschland entstanden Siedlungen für „Landfahrer“ oder die oftmals menschenunwürdigen Barackensiedlungen wurden saniert. Unter anderem in Freiburg im Breisgau, Straubing, Köln-Roggendorf und Köln-Longerich, Ravensburg-Ummenwinkel, Düsseldorf-Eller und Hamburg-Wilhelmsburg wurden Vorhaben des „zigeunergerechten Wohnens“ unter Berücksichtigung der von den Sintizze geäußerten Wohnbedürfnissen erprobt und mit Konzepten einer „zigeunergerechten Beschulung“ verknüpft. Mit dem Ansatz ‚vom Wohnmodell zum Schulmodell‘ versuchte man, Stadtteil- und Schulentwicklung, Wohnbau- und Bildungspolitik kohärent zu integrieren. Wo dies gelungen ist, konnte eine hohe Akzeptanz der Projekte seitens der Betroffenen erzielt werden. Überregional bekannt wurde die unter dem Namen „Weingartenschule“ gegründete Sintischule in Freiburg/Breisgau. In anderen Städten wurden eher non-formale Bildungsangebote entwickelt, insbesondere zur Alphabetisie­rung von Kindern und Erwachsenen. Immer wieder kam es zur Einrichtung von Kulturzentren, denen Kindergärten, Schulprojekte sowie berufsbildende Angebote und Bildung für Erwachsene angegliedert wurden. [Hornberg 2000; Meuler/Papenbrok 1987]

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Die jüngeren schulpolitischen Entwicklungen sind zweigeteilt: Für Romnja ohne deutsche Staatsangehörigkeit wird im Rahmen einer eher restriktiven Asylpolitik ein ordnungspolitisches Konzept gefahren, mit einer hohen behördlichen Kontrolle, teilweise einer Beschränkung vom Schulbesuch während der Zeit des Aufenthalts in Deutschland und dem Ziel der möglichst raschen Rückführung in die Herkunftsländer. In zwei Romaschulen, der „Schaworalle“ in Frankfurt/Main (gegründet 1999) und „Amaro Kher“ in Köln (2004), werden diesen Kindern und Jugendlichen dennoch Bildungsangebote unterbreitet. Für Sintizze und Romnja mit deutscher Staatsangehörigkeit zeichnet sich die Tendenz ab, die speziellen Schulen aufzulösen und die Kinder in das Regelschulsystem zu integrieren. In manchen Bundesländern, insbesondere in Hamburg, werden seit 1985 systematische Fortbildungen von Lehrkräften durchgeführt, die mit jungen Sintizze und Romnja arbeiten. An etlichen Schulen wurden Romnja-Schulsozialarbeiter eingestellt, es wird muttersprachlicher Unterricht in Romani erteilt. Für diese Integrationsansätze gilt, dass bei Familien, die sozio-ökonomisch relativ gut gestellt sind und die seit langem in bürgerlichen Zusammenhängen leben, die Bildungsaspiration deutlich zugenommen hat und die Kinder und Jugendlichen häufiger in die höheren Bildungsgänge gelangen. Schwierig ist weiterhin die Bildungsbeteiligung in denjenigen Familienverbänden, die in prekären ökonomischen und sozialen Verhältnissen leben. [Lindemann 2005; Koswig/Zeilfelder 2012; LIF 2015]. Ein eigenes Handlungsfeld ist die (→) Berufliche Bildung für Sintizze und Romnja.

 

Brüggemann, Christian; Hornberg, Sabine; Jonuz, Elizabeta (2013): Heterogenität und Benachteiligung - die Bildungssituation von Sinti und Roma in Deutschland. In: Hornberg, Sabine; Brüggemann, Christian (Hrsg.): Die Bildungssituation von Roma in Europa. Münster: Waxmann, 91-120. – Gilsenbach, Reimar (1993): Ein paar hundert Landsleute. Sinti in der DDR-Geschichte. Berlin: Basis-Druck. – Hornberg, Sabine (Hrsg.) (2000): Die Schulsituation von Sinti und Roma in Europa. Frankfurt am Main: IKO. – Hund, Wolf-Dieter (Hrsg.) (1996): Zigeuner. Geschichte und Struktur einer rassistischen Konstruktion. Duisburg: DISS. – Hundsalz, Andreas (1980): Schulschwierigkeiten bei Zigeunerkindern. In: Psychologische Praxis, Band 53, Basel: Karger, 56-92. – Koswig, Marina; Zeilfelder, Luisa (2012): Schulische Herausforderungen der Bildungsarbeit mit jungen Roma in Hamburg und Berlin. Bachelorarbeit im Studiengang Lehramt an Sonderschulen, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Hamburg. (Unver. Mskr.). – Krause, Mareile (1989): Verfolgung durch Erziehung. Eine Untersuchung über die jahrhundertelange Kontinuität staatlicher Erziehungsmaßnahmen im Dienste der Vernichtung kultureller Identität von Roma und Sinti. Ammersbek bei Hamburg: Verlag an der Lottbek. – LIF (2015) - Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg: Roma- und Sinti Bildungsberater an Hamburger Schulen – eine Bestandsaufnahme. Hamburg: LIF. – Lindemann, Florian (2005): „Schule muss schmecken!“ Ermutigende Erfahrungen junger Roma im deutschen Bildungswesen. Weinheim und Basel: Beltz. – Mašková, Marie (1985): Die Schule für Zigeunerkinder in Berlin. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 35, 255-257. –Matras, Yaron (1991): Roma und Cinti in Hamburg. Hamburg: Roma und Cinti Union. – Meueler, Erhard; Papenbrok, Marion (1987): Kulturzentren in der Kultur- und Sozialarbeit von Sinti und Roma. Ein interkultureller Vergleich. Weinheim: Deutscher Studienverlag. – Roma-Union (1994): Opre Roma! Erhebt Euch. München: AG Spak. – Widmann, Peter (2001): An den Rändern der Städte. Sinti und Jenische in der deutschen Kommunalpolitik. Berlin: Metropol. – Wurr, Rüdiger; Träbing-Butzman, Sylvia (1998): Schattenkämpfe: Widerstände und Perspektiven der schulischen Emanzipation deutscher Sinti. Kiel: Agimos.