Schulen in Konzentrationslagern
Die Geschichte der Konzentrationslager reicht bis in den neuzeitlichen europäischen Kolonialismus zurück. In Kuba, Südafrika und den Philippinen wurden von Briten und Spaniern Concentration camps bzw. Campos de reconcentración eingerichtet, um die Kolonisierten zu unterdrücken, zu zivilisieren und umzuerziehen. Auch das Deutsche Reich hat in seiner Kolonie Deutschsüdwest (Namibia) solche Konzentrationslager zur Niederschlagung der Befreiungsbewegungen der Herrero und Nama verwendet. Anders als in den Lagern der Briten für Schwarze in Südafrika, in denen es zumindest vereinzelt Camp schools gab, wurden in den Lagern in Deutschsüdwest (Namibia) keine Schulen für die Kinder und Jugendlichen eingerichtet. [Zietsman 2001; Kreienbaum 2015]
Die sowjetrussischen Lager (Gulag) waren vor allem Straf-, Zwangsarbeits- und Umerziehungslager. Der Ansatz gründete zwischen 1919 und 1940 auf einer „Besserungsarbeitstheorie“ und war zu dieser Zeit im europäischen Kontext eines der humansten Systeme des Strafvollzugs. „Die Theorie sah vor, den eintönigen Alltag der Gefängnisse durch ein Leben im Kollektiv, verbunden mit nützlicher, produktiver Arbeit und schulischem Unterricht zu ersetzen“ [Fischer 2011, 113]. Ziel der Haft war es, einen allseitig entwickelten Menschen in die Gesellschaft zu entlassen. Entsprechend gab es relativ viele „Kulturerziehungsangebote“, zu denen Allgemeinbildung, berufliche Bildung, Theater, Bibliotheken, Orchester, Lesezirkel und ähnliches gehörten. Unter Stalin wurde dieser Ansatz dann wieder abgeschafft. [Fischer 2011]
Im Nationalsozialismus waren nur in den Konzentrationslagern für „asoziale“ Jugendliche, den so genannten Jugendschutzlagern, schulische Einrichtungen vorgesehen, auch wenn diese nicht immer verwirklicht worden waren. In den Ghettos waren Schulen untersagt, dennoch organisierten inhaftierte Lehrkräfte trotz des Verbots und unter großer Gefahr ein Unterrichtssystem (→ Untergrundschulen). Auch in den Zwangsarbeits- und Vernichtungslagern waren Schulen und alle anderen Formen von Bildungsangeboten streng verboten. Gleichwohl begannen in vielen Lagern die Häftlinge in Selbstinitiative zu unterrichten, teilweise wurden in diesen illegalen Schulen regelrechte formalisierte Bildungsgänge entwickelt. Zudem gelang es in einigen Lagern von den Nazis geduldete Schulen einzurichten, die eine beruflich orientierte Ausrichtung hatten („Maurerschulen“). [Werner 1944; Diestel 1992; Jureit 1995]
Oftmals begannen inhaftierte Lehrkräfte in Eigeninitiative die im Lager anwesenden Kinder und Jugendlichen zu unterrichten. So brachte in Majdanek Mathylda Wilniewska aus eigener Initiative polnischen Kindern aus der Gegend von Zamość Lesen und Schreiben bei. Auch in Buchenwald gab es eine illegale Schule, die von 114 polnischen Mädchen und Jungen absolviert wurde. In vier Gruppen wurden diese jeweils vier Stunden täglich unterrichtet. Außerdem gab es dort eine illegale Schule für die Kinder erschossener Partisanen und ermordeter sowjetischer Partei- und Staatsfunktionäre, die vor allem von inhaftierten deutschen Kommunisten mit dem erforderlichen Material ausgestattet wurde.
Die Schule existierte bis zum 1. April 1945, als die Häftlinge in die Vernichtungslager gebracht wurden. Bis 1942 bestand in Buchenwald außerdem die so genannte „Polenschule“, in denen für die Jugendlichen Deutschunterricht organisiert werden durfte, indem argumentiert wurde, dass durch die Überwindung von Sprachschwierigkeiten ein besserer Arbeitseinsatz erreicht werden könne. In Bergen-Belsen hatte Hanna Levy-Hass im August 1944 mit einer regelmäßigen Unterrichtsarbeit begonnen. In ihrem Tagebuch schreibt sie dazu: „Ich habe die Aufgabe übernommen, mich um die Kinder zu kümmern. In unserer Baracke sind 110 Kinder verschiedenen Alters, von dreijährigen Kleinkindern bis zu 14- und 15-jährigen Jungen und Mädchen.“ [Levy-Hass 1979, Eintrag vom 28.8.1944]
Eine sehr rege schulorientierte Bildungsarbeit wurde von den Frauen in Ravensbrück entfaltet. Vor allem die dort inhaftierten Polinnen begannen bereits ab 1940 heimlich zu unterrichten. Die Lehrerin Urszula Wińska bot zunächst einen Literaturkurs für junge Frauen an, um diesen neben der monotonen Arbeit gedankliche Anregungen zu geben. Ab 1943 organisierte sie drei Unterrichtsgruppen mit einem Weiterbildungskurs für Mädchen nach Abschluss der Grundschule sowie zwei Kurse auf gymnasialem Niveau, der sich am polnischen Lehrplan der Oberschule orientierte. Diese Gymnasialklassen durchliefen dreißig junge Frauen, sie bestanden bis zur Liquidierung des Lagers. Einige Lehrerinnen organisierten Unterricht auch auf der Ebene der allgemeinbildenden Schule im Rahmen kleiner Gruppen. Nach dem Warschauer Aufstand kamen viele junge Mädchen ohne Mütter in das Lager, um die sich die Lehrerinnen kümmerten. In Ravensbrück hielten die Lehrerinnen Abschlussprüfungen ab, für die von den Häftlingen Kommissionen gebildet wurden; nach der Rückkehr nach Polen erhielten die Schülerinnen verifizierte Zeugnisse.
Auch die Französinnen gründeten „Lernzirkel“, in denen sie tagespolitische oder philosophische Fragen diskutierten, die durch die Inhaftierung unterbrochene Schulbildung fortsetzen wollten und insbesondere Sprachen von den anderen Häftlingen lernten oder diese im Französischen unterrichteten. In Ravensbrück begannen die Frauen außerdem mit der Ausbildung von Lehrerinnen. [Dunin-Wąsowicz 2000; Limbächer et al. 2005]
In mehreren Konzentrationslagern konnten die Inhaftierten von den Nazis die Genehmigung zur Einrichtung so genannter „Maurerschulen“ erlangen. Mit der Begründung, dass der Facharbeitermangel im Krieg bestimmte Bauvorhaben erschweren würde, erreichten die Häftlinge die Erlaubnis, dass männliche Kinder und Jugendliche zu Maurern ausgebildet wurden. In Buchenwald wurde im Block 49 eine solche „Maurerschule“ eingerichtet, die nicht nur der vorgesehenen Bauausbildung diente, sondern auch das Überleben ermöglichte. Knapp zweihundert männliche Jugendliche im Alter zwischen 13 und 20 Jahren konnten auf diese Weise vor dem Abtransport nach Auschwitz gerettet werden. In Birkenau wurde 1942 die erste „Maurerschule“ eingerichtet, in der insgesamt mehr als tausend männliche Jugendliche von „arischen“ Vorarbeitern ausgebildet wurden, der Unterricht wurde in zwei Baracken abgehalten. Gleichwohl wurden mehrere hundert Jugendliche später in die Gaskammern abtransportiert. In Monowitz wurden zweihundert junge Männer im Alter zwischen neun und sechzehn Jahren drei Monate lang qualifiziert und dann zur Rüstungsproduktion in die nahe gelegenen IG-Farben-Werke geschickt, während andere Jugendliche in die Schule aufrückten. In Mauthausen wurden einige Jugendliche als Steinmetze für den Bau von „Großbauten des Führers nach dem Friedensschluß“ ausgebildet und mussten dann in den Steinbrüchen oder im Stollenbau von Mauthausen und seinen Außenlagern arbeiten, bevor sie nach Dachau und Auschwitz deportiert wurden. [Langbein 1980; Kaminski 1990]
Bundesarchiv: Jugendschutzlager Uckermark. ND 4, Nr. 42 und NS 4, Nr. 209. – KZ-Gedenkstätte Moringen. Das Werkhaus Moringen. – Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück: Sammlungen MGR/StBg, RA Nr. VIII/2 (Erlebnisberichte) und Sammlung MGR/StBG Erika Buchmann. – Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald: Kinder in Buchenwald. BG 341, BG 691, BG 843. – Staatsarchiv Hamburg: Bestand Oberschulbehörde 361-2-VI, 994, 1273 und 1274.
Diestel, Barbara (1992): Kinder in Konzentrationslagern. In: Benz, Ute und Wolfgang (Hrsg.): Sozialisation und Traumatisierung. Kinder in der Zeit des Nationalsozialismus. Frankfurt/Main: Fischer, 117-127. – Dunin-Wąsowicz, Krzysztof (2000): Bildungsbestreben als Form des Widerstands. In: UTOPIE kreativ, Heft 115/116, 534-540. – Fischer von Weikersthal, Felicitas (2011): Die „inhaftierte“ Presse. Das Pressewesen sowjetischer Zwangsarbeiterlager 1923-1937. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag. – Hauptkommission zur Untersuchung der Naziverbrechen in Polen (Hrsg.) (1973): Verbrechen an polnischen Kindern 1939-1945. Eine Dokumentation. München: Anton Pustet (deutsche Ausgabe). – Jureit, Ulrike (1995): Erziehen, Strafen, Vernichten: Jugendkriminalität und Jugendstrafrecht im Nationalsozialismus. Münster: Waxmann. – Kaminski, Andrzej J. (1990): Konzentrationslager. 1896 bis Heute. München: Piper. – Kreienbaum, Jonas (2015): „Ein trauriges Fiasko“ Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika 1900-1908. Hamburg: Hamburger Edition. – Langbein, Hermann (1980): … nicht wie die Schafe zur Schlachtbank. Widerstand in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Frankfurt/Main: Fischer. – Levy-Hass, Hanna (1979): Vielleicht war das alles erst der Anfang. Berlin: Rotbuch-Verlag. – Limbächer, Katja; Merten, Maike; Pfefferle (2005): Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark. Münster: Unrast. – Werner, Paul (1944): Die Einweisung in die polizeilichen Jugendschutzlager. In: Deutsches Jugendrecht. Beiträge für die Praxis und Neugestaltung des Jugendrechts. Heft 4. Berlin: G. Schenck, 95-106. – Zietsman, Paul (2001): The Concentration Camp Schools – Beacons of Light in the Darkness. In: Pretorius, Fransjohan (Hrsg.): Scorched Earth. Pretoria: Thorold's Africana Books, 86-109.