UNRWA-Schulen

Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) wurde im Jahr 1949 gegründet, um den Geflüchteten und Vertriebenen bis zur Regelung der Palästinafrage durch Bereitstellung von Lebensmitteln, Unterkünften, Kleidung und medizinischer Versorgung beizustehen. Bei der UNRWA arbeiten über 30.000 zumeist palästinensische Beschäftigte. Ursprünglich für die direkte Nothilfe gedacht, wurde das Mandat auf Bildung und Gesundheitsversorgung erweitert. Die UNRWA hat fünf Einsatzgebiete (Gaza, Westjordanland, Jordanien, Syrien und Libanon) und betreute dort 2017 über 5,9 Millionen Menschen in 58 Lagern. Das Gros des Jahresbudgets (etwa 600 Millionen US Dollar) wird für das Schulsystem ausgegeben, das aus rund 700 Grund- und Sekundarschulen, neun Berufsschulen sowie zwei Instituten für Lehrkräfteausbildung besteht und in dem über eine halbe Million Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden. Außerdem gibt es UNRWA-Stipendien für ein Hochschulstudium zumeist in einem arabischen Land. [Bocco 2009; Irfan 2019; www.unrwa.org/who-we-are]

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Systematisch gehören die UNRWA-Schulen somit zu den (→) Flüchtlingsschulen. Sie sollen hier aber in einem eigenen Stichwortartikel beschrieben werden, weil es sich um ein weltweit einzigartig konstruiertes Bildungssystem handelt: Seit den 1950er Jahren ist das Netzwerk (UNRWA) die einzige internationale Organisation, die eine einzelne regionale Gruppe von Geflüchteten adressiert. Alle anderen Flüchtlinge werden grundsätzlich durch „The United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR)“ versorgt, einschließlich palästinensischer Geflüchteter, die sich außerhalb der fünf Einsatzgebiete der UNRWA befinden. Aus der ursprünglich kurzfristigen Nothilfe wurde ein verstetigtes Schulsystem, das aber ausschließlich aus internationalen Mitteln finanziert wird. Ein vergleichbares Konstrukt gibt es noch in der Demokratischen Arabischen Republik Sahara („Westsahara“), auch dort sind die ersten notdürftigen Flüchtlingsschulen über die Jahre zu einem überwiegend international finanzierten Schulsystem institutionalisiert worden, allerdings im Rahmen des UN-Programms für (→) Non-Self-Governing Territories.

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Einige der UNRWA-Lager sind in städtischen Kontexten, andere in der urbanen Peripherie, viele befinden sich in ländlichen Gegenden. Durchschnittlich konzentriert sich Armut und es gibt eine hohe Zahl von Erwerbslosen. Diese statistischen Angaben der UNRWA repräsentieren jedoch erhebliche unterschiedliche historische Erfahrungen und generationelle Lagerungen, diverse soziokulturelle Milieus und zudem transnationale Verflechtungen. Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse und politischen Orientierungen ‚palästinensischer Flüchtlinge‘ unterscheiden sich sehr stark. Deshalb wird kritisiert: „Aus der UNRWA-Perspektive werden die sogenannten ‚Flüchtlinge‘ nicht in ihren divergierenden sozioökonomischen, soziopolitischen und soziogenerationellen Kontexten betrachtet, sondern es wird dabei von einer homogenen Wir-Gruppe ausgegangen, die in sich jedoch äußerst divers ist. Jedoch determiniert die UNRWA-Perspektive die Debatte über die palästinensischen Flüchtlinge in vielerlei Hinsicht weitgehend.“ [Albaba 2020, 35]

Die UNRWA-Schulen stehen vor besonderen Herausforderungen: Aufgrund der immer wieder aufflammenden kriegerischen Lage in der Region wachsen die Kinder und Jugendlichen unter schwierigen Bedingungen, insbesondere mit Gewalterfahrungen auf. Gerade die Schulgebäude werden in den bewaffneten Konflikten oftmals zerstört oder für die Unterbringung von Verletzten oder der obdachlos gewordenen Bevölkerung genutzt. Zwei-Schicht-Unterricht ist sehr verbreitet und führt zu einer großen Belastung für die Lehrkräfte. Die Versorgung mit Unterrichtsmaterial ist hingegen recht gut, UNRWA hat spezielle Lehrpläne und Schulbücher entwickelt, die kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und verbreiteten Armut in der Region, können die Kinder jedoch nicht immer am Unterricht teilnehmen, weil sie arbeiten oder Geschwister versorgen müssen. Spezielle Programme für Kinder mit Beeinträchtigungen gibt es nur vereinzelt. [Sultana 2007; Pherali/Turner 2017; www.unrwa.org/what-we-do/education]

Trotz dieser schwierigen Ausgangsbedingungen ergab eine größere empirische Untersuchung, in der die UNRWA-Schulen mit den öffentlichen Schulen in Jordanien, West Bank und Gaza verglichen wurden, dass die Schülerinnen und Schüler in den üblichen Leistungskompetenzen (Sprache, Mathematik, Naturwissenschaften) weit überdurchschnittlich gut abschneiden konnten. Hierfür nennt die Studie mehrere Gründe: Die UNRWA-Lehrkräfte werden besser bezahlt, sind gut und länger ausgebildet und werden kontinuierlich fortgebildet, außerdem identifizieren sie sich weitaus mehr mit ihrer Arbeit als viele Lehrkräfte an den öffentlichen Schulen. UNRWA-Schulen haben ein umfangreiches erweitertes Bildungsangebot und es gibt eine individuelle Förderung. Eltern entscheiden sich überwiegend bewusst für diese Schulen und arbeiten mehrheitlich aktiv im Schulleben mit. UNRWA-Schulen haben mehr Möglichkeiten, die lokalen Curricula zu differenzieren und zu adaptieren. Schulleitungen werden intensiv begleitet, überdies wird viel Wert auf eine permanente Schulentwicklung gelegt. Die wöchentliche Unterrichtszeit und die Zahl der Schultage pro Jahr ist höher als an öffentlichen Schulen, Ferienzeiten sind kürzer, Unterrichtsausfall beispielsweise wegen Streiks der Lehrkräfte ist selten. Die Bildungsprogramme können leichter abgestimmt und koordiniert werden mit anderen Unterstützungsprogrammen der UNRWA, sodass Schülerinnen und Schüler besser und umfassender gefördert werden können. [World Bank Group, 2016]

Albaba, Ahmed (2020): Palästinensische Familien in den Flüchtlingslagern im Westjordanland. Eine empirische Studie zum kollektiven Gedächtnis und den transgenerationellen Folgen von Flucht und Vertreibung. Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. – Bocco, Riccardo (2009): UNRWA and the Palestinian Refugees: A History within History. In: Refugee Survey Quarterly, Volume 28, Issue 2-3, 229-252. – Irfan, Anne E. (2019): Educating Palestinian Refugees: The Origins of UNRWA’s Unique Schooling System. In: Journal of Refugee Studies, https://doi.org/10.1093/jrs/fez051Pherali, Tjendra; Turner, Ellen (2017): Meanings of education under occupation: the shifting motivations for education in Palestinian refugee camps in the West Bank. In: British Journal of Sociology of Education. DOI: 10.1080/01425692.2017.1375400. – Sultana, Ronald (2007): Palestinian Refugee Children and Education: Challenges for UNRWA. In: World Studies in Education 8, 2, 5-32. – World Bank Group (2016): Learning in the face of adversity. The UNRWA Education program for Palestine refugees. Washington: Word Bank.