Vagantenschulen

Unter dem pejorativen Begriff Vagantentum sind jahrhundertelang jene Formen mobiler Lebenspraxis zusammengefasst worden, die man gesellschaftlich nicht tolerieren wollte. Umherstreunende, wohnsitzlose, obdachlose, zur Bettelei oder Delinquenz neigende Kinder und Jugendliche aus ‚verwahrlosten‘ familiären Verhältnissen wurden bis Mitte des 19. Jahrhunderts überwiegend in Zuchthäuser, Zwangsarbeitshäuser oder Strafanstalten gebracht. Durch ein Bestrafungs-, Disziplinierungs- und Kontrollinstrumentarium sollte ihnen der ‚unstete Drang des Umherziehens’ ab- und Sesshaftigkeit angewöhnt werden.

Die Vagantenkinderanstalt in Weingarten (1826-1868) war ein früher Versuch, mittels eines durchdachten Bildungsprogrammes diese ‚gefährdeten’ Kinder einer bürgerlichen Lebensführung zuzuführen. Die Schule in Weingarten wurde als Internat geführt. Ein Schwerpunkt des Konzepts lag auf dem Ziel der ‚industriösen Erziehung‘, was zu dieser Zeit die Hinführung zu einem ‚Gewerbefleiß‘ meinte, indem den Zöglingen Grundkenntnisse aus verschiedenen Handwerksberufen beigebracht wurden. Anders als in den Zwangsarbeitshäusern, in denen es ausschließlich monotone Tätigkeiten gab, wurde hier ein Konzept der Arbeitserziehung und beruflichen Vorbereitung verfolgt: In der Schreinerwerkstatt wurden Stühle, Kinderschlitten und Schaufelstiele gefertigt, und es gab eine Schneider- und Schusterwerkstatt. Es wurde Gartengemüse und Getreide und sogar Tabak angebaut. Weingarten war als Versuchsstandort zur Einführung der Seidenraupenzucht in Württemberg gewählt worden, auch hierbei beteiligte sich die Anstalt. Ein Drittel des Gewinns kam in den „Sparhafen“ der Schüler. Nach Abschluss des vierjährigen Schulgangs kümmerte sich das Institut um Lehrstellen und hielt mit den Lehrmeistern Kontakt. [Nagel 1986; Heinz 1990; Hauptstaatsarchiv Stuttgart; Stadtarchiv Weingarten]

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Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in ganz Europa, als Folge von gesellschaftlicher Rückständigkeit und sozialer Ungleichheit sowie Kriegs- und Bürgerkriegswirren, Massenarbeitslosigkeit, Missernten und Hungerkatastrophen, eine heute vermutlich kaum mehr vorstellbare Kinder- und Jugendverelendung. Für Russland werden sieben bis neun Millionen Minderjährige genannt, die um 1920 auf der Straße lebten und deren elementarsten Lebensbedingungen nicht gesichert waren. Die als „Besprisornye“ bezeichneten Kinder und Jugendlichen scharten sich oftmals zu Banden zusammen, um zu versuchen, gemeinsam zu überleben. Die junge Sowjetregierung hatte unter großen materiellen Opfern ca. sechstausend Arbeitskolonien eingerichtet, in denen mehr als eine halbe Million Kinder untergebracht worden waren, um das Kinderelend und die Jugendverwahrlosung, die sich in Kriminalität, Prostitution, Alkoholismus und Gewalttätigkeit äußerte, zu bekämpfen. Weltberühmt wurde das „Hauptkinderheim für moralisch defektive Kinder Nr. 7“ in Poltava, das 1920 von dem Lehrer Anton Semjonowitsch Makarenko übernommen und zur „M.Gor’kij-Kolonie“ umbenannt wurde. Dort wurden rund dreihundert minderjährige Rechtsverletzer betreut. Makarenkos Pädagogik lag eine Kollektivitätsidee zugrunde, die von dem Verständnis vom Menschen als gesellschaftlichem Wesen ausging, das sich im gemeinschaftlich organisierten Arbeiten und Leben verwirklicht. In der Kolonie wollte er dies durch die Schaffung eines Produktionszusammenhangs aus landwirtschaftlicher, handwerklicher und kleinindustrieller Arbeit ermöglichen, in der die Erziehung durch eine ‚Sorge für die Arbeit‘ strukturiert werden sollte. Blieben die Jugendlichen zunächst nur etwa zwei Jahre in der Kolonie, die gerade ausreichten, um ihnen das Lesen und Schreiben beizubringen, so wurde später eine zehnjährige Schulbildung angeboten, in der in sieben Jahren ein allgemein bildender Abschluss erworben und in drei Jahren durch den Besuch eines Technikums eine berufliche Facharbeiterausbildung absolviert werden konnte. [Sauermann 1987, Weitz 1992]

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Die nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) von 1922 in Deutschland gegründeten Einrichtungen der Jugendhilfe für Erziehungsschwierige, von Verwahrlosung bedrohte oder verwahrloste Kinder und Jugendliche wurden etwa ab 1935 von der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ (NSV) dominiert. In der Veröffentlichung „Der nichtseßhafte Mensch. Ein Beitrag zur Neugestaltung der Raum- und Menschenordnung im Großdeutschen Reich“ [Bayerischer Landesverband 1938] wurden die neuesten Erkenntnisse aus der anthropologischen, rassenhygienischen, erbbiologischen, rechtswissenschaftlichen, kriminalistischen, psychologischen und gesundheitspolitischen Perspektive zusammengetragen. Insbesondere die „sippenkundlichen Studien“ von Robert Ritter [1938], bescheinigten den „Zigeunern und Landfahrern“ ein „unerhört schweres Erbschicksal“, dass sich in einer elementaren Unfähigkeit zur sozialen Anpassung und Verwahrlosung zeige. Das ‚Vagabundieren‘ war eine zentrale Kategorie zur Klassifizierung ‚gemeinschaftsfremden‘ Verhaltens, es wurde als angeboren charakterisiert und aufgrund der zugeschriebenen primitiven Geisteshaltung und der Sittenlosigkeit und Verderbtheit als Gefahr für die Volksgesundheit klassifiziert. [Arnold 1958; Rohrmann 2011]

Wurden in den Fürsorgeheimen nur diejenigen betreut, bei denen gute Erfolgsaussichten bestanden und die als erbbiologisch akzeptabel angesehen wurden, überführte man die als unerziehbar eingestuften Zöglinge in Arbeitshäuser, in Jugendschutzlager sowie in eines der drei (→) Konzentrationslager für minderjährige Jungen (in Moringen), Mädchen (Uckermark) und Ausländer (Łódź).

In Deutschland und der Schweiz wurde bis weit in die 1970er Jahre „das Vagantentum bekämpft“, indem man die Kinder aus ihren Familien herausnahm und sie in eine ihnen angeblich gedeihlichere Umgebung brachte. Großes Aufsehen erregte das von Alfred Siegfried gegründete „Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse Pro Juventute“ in der Schweiz, das in einem, 1998 von einem Untersuchungsausschuss vorgelegten Bericht als „eines der dunkelsten Kapitel in der jüngeren Schweizer Geschichte“ bezeichnet wird. Etwa 600 Kinder waren in einem flächendeckenden System aus Pflegefamilien und Adoptiveltern, Waisenhäusern und Heimen, psychiatrischen Kliniken und Strafanstalten zur Sesshaftigkeit erzogen worden. An der Arbeit des Hilfswerks wird deutlich, wie mit der sozio-kulturellen Konstruktion des Vaganten, der kriminalisierenden und psychiatrisierenden Beschreibung der Vaganität als eines Syndroms und der sozialen Ächtung des Handlungsmusters des Vagierens der gesellschaftliche Pathologiediskurs ein in sich geschlossenes soziales ‚Krankheitsbild’ erzeugt hat. Die mobile Lebenspraxis am Rande der Armut, überwiegend erzwungen von den sozialen Verhältnissen, wurde zu einem auffälligen und abweichenden Verhalten personalisiert, zu einem kollektiven Verhaltensmuster gebündelt und zu einem Merkmalskatalog sozialer Gruppen generalisiert. [Siegfried 1964; Schweizerisches Bundesarchiv 1998]

Hauptstaatsarchiv Stuttgart: E 170 Bü 959 Seidenraupenzucht; E 221 Bü 1404 Waisenhaus; E 301 Bü 205. – Justizministerium I – Stadtarchiv Weingarten: Bü 893 Aufnahme hiesiger Kinder im Waisenhaus; Bü 1820. – Korrektionsanstalt; Ohne Signatur:  Nachrichten von dem Waisen-Institut zu Weingarten für Waisenfreunde. Herausgegeben von Ober-Inspektor Fritz und Oekonomie-Verwalter Ludwig, Vorstehern des Instituts. Erstes Heft, Jahrgang 1825. Ohne Signatur: Nachrichten von dem Königlichen Waisen-Institut zu Weingarten für Kinderfreunde und Waisen-Wohlthäter. Herausgegeben von Ober-Inspektor Fritz und Oekonomie-Verwaltungs-Amtsverweser Zeller, Vorstehern des Instituts. Zweites Heft, Jahrgang 1826 bis Siebtes Heft, Jahrgang 1832. Ohne Signatur: Nachrichten von der Königlichen Waisen-Erziehungs-Anstalt zu Weingarten für Kinderfreunde und Waisen Wohlthäter. Herausgegeben von Ober-Inspektor M. Rieke und dem provisorisch ernannten Oekonomnie-Verwalter Golther, Vorstehern des Instituts. Achtes Heft, Jahrgang 1826 bis Zehntes Heft, Jahrgang 1834.

Arnold, Hermann (1958): Vaganten, Komödianten, Fieranten und Briganten. Untersuchungen zum Vagantenproblem an vagierenden Bevölkerungsgruppen vorwiegend in der Pfalz. Stuttgart: Georg Thieme. – Bayerischer Landeverband für Wanderdienst (1938): Der nichtseßhafte Mensch. Ein Beitrag zur Neugestaltung der Raum- und Menschenordnung im Großdeutschen Reich. München: C.H.Beck. – Heinz, Werner (1990): Altdorf – Weingarten 1805-1945. Industrialisierung, Arbeitswelt und politische Kultur. Bergatreute: Wilfried Eppe. – Nagel, Adalbert (1986): Armut im Barock. Die Bettler und Vaganten Oberschwabens. Weingarten: Drumlin. – Ritter, Robert (1938): Zigeuner und Landfahrer. In: Bayerischer Landesverband für Wanderdienst (Hrsg.): Der nichtseßhafte Mensch. Ein Beitrag zur Neugestaltung der Raum- und Menschenordnung im großdeutschen Reich. München: C.H.Beck, 71-88. – Rohrmann, Eckhard (2011): Poriomanie oder der „Wandertrieb“. In: ders.: Mythen und Realitäten des Anders-Seins. Gesellschaftliche Konstruktionen seit der frühen Neuzeit, 174-177. – Sauermann, Ekkehard (1987): Makarenko und Marx. Praktisches und Theoretisches über die Erziehung der Arbeiterjugend. Berlin: Dietz Verlag. – Siegfried, Alfred (1964): Kinder der Landstrasse. Ein Versuch zur Sesshaftmachung von Kindern des fahrenden Volkes. Zürich: Flamberg. – Schweizerisches Bundesarchiv (1998): Das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse. Historische Studie aufgrund der Akten der Stiftung Pro Juventute im Schweizerischen Bundesarchiv. Bern: Schweizerisches Bundesarchiv. – Weitz, Siegfried C.  (1992): Zum Beispiel Makarenko. Annäherung an eine kontextuelle Pädagogik. Marburg: td publications.