Winterschulen - Sommerschulen
Die Einführung und Durchsetzung eines „Schulzwanges“, wie die Schulpflicht zunächst genannt wurde, geschah in einem überwiegend agrarisch geprägten gesellschaftlichen Kräftefeld. Die Kinder waren in vergleichsweise stabile Familien- und Sozialbeziehungen integriert, in denen Kinderarbeit ganz selbstverständlich war. In der Frühen Neuzeit hatte dies zur Folge, dass im Sommer häufig kein Unterricht stattfinden konnte. Die Regel blieb bis weit in das 19. Jahrhundert, dass ein intensiver Unterricht auf dem Lande und in solchen Städten, die ländlich geprägt waren, im „Winter“ stattfand, weil in diesen wenigen Wochen und Monaten in den Familien die Arbeitskraft der Kinder noch am ehesten entbehrt werden konnte. Allerdings schlugen oftmals im Winter, zumal in Regionen mit stärkerer Landarmut, witterungsbedingte Hindernisse auf den Schulbesuch durch, jedenfalls dann, wenn eine ausreichende Bekleidung bei weiten Schulwegen (und geringerer Schuldichte) nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden konnte. Dagegen vermochten landesherrliche Befehle nichts auszurichten. [Engelbrecht 1984; Friedrich 1987]
Es gibt schon im 16. Jahrhundert für einzelne Orte Regelungen zum jahreszeitlichen Schulbesuch, und das Gesamtbild änderte sich auch während der Frühneuzeit nicht. Die „Sommerschule“ blieb schwach besucht, und regional fand im „Sommer“ Unterricht überhaupt nicht statt. Im 17. Jahrhundert reduzierte sich die Landschulpraxis auf die Zeit von Weihnachten bis Ostern, zum Teil auch nur auf eine Phase von vier bis sechs Wochen. Eher selten findet sich der umgekehrte Fall: Im Obererzgebirge beispielsweise war gerade der Schulbesuch im Sommer üblich, ganz offenbar eine Folge der dortigen spezifischen gewerblichen Struktur. Noch im 18. Jahrhundert konnte vom Frühling bis zum Abschluss der Ernte von einem dauerhaften Schulbesuch nicht die Rede sein. [Hoke/Reiter 1993]
Bereits Friedrich Wilhelm versuchte durch die „Preußische Verordnung über die Einführung des allgemeinen Schulzwangs vom 28.9.1717“ sicherzustellen, dass jedes Kind „im Winter täglich und im Sommer wann die Eltern die Kinder bei ihrer Wirthschafft benötiget seyn, zum wenigstens ein oder zweymahl die Woche, damit Sie das jenige, was im Winter erlernet werden, nicht gänzlich vergesen mögen, in die Schul zuschicken.“ [in: Reble 1971, 232; vgl. auch Neugebauer 1982].
Doch erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts scheint sich eine langsame Verstetigung des Schulbesuchs einzustellen, wenn auch durchaus nicht in allen Orten. Dennoch bleibt die Durchsetzung der Schulpflicht schwierig, so dass der Preußenkönig 1763 im General-Land-Schul-Reglement verordnete: „Um aber wegen den Sommer- und Winterschulen etwas gewisses zu bestimmen, so wollen Wir, dass die Winterschulen an allen Wochentagen, Vormittags von 8 bis 11 und Nachmittags, den Mittwoch und Sonnabend ausgenommen, von 1 bis 4 gehalten werden sollen. Die Winterschule gehet daher von Michaelis bis Ostern unausgesetzt fort, die Sommerschulen aber sollen nur des Vormittags oder nach den Umständen des Ortes, Nachmittags in drei Stunden alle Tage gehalten werden. Um welchen Stunden des Tages aber der Unterricht seinen Anfang nehmen soll, solches werden die Prediger, nach den Umständen ihres Ortes bestens zu bestimmen und einzurichten wissen. Keine Ferien werden verstattet, sondern selbst in der Erndte müssen die Schulen auf vorgedachte Art gehalten werden. Doch mit dem Unterschied, dass, da im Winter auf jede Lection eine ganze Stunden, dagegen im Sommer nur eine halbe Stunde darauf gewendet werden soll“ [Königl. Preuß. General-Land-Schul-Reglement vom 12. August 1763; in: Reble 1971, 233-234]
Links: Das Schild verrät die ursprüngliche Aufgabe dieses Hauses: Die Winterschule (landwirtschaftliche Schule) in Neustadt am Rübenberge. Rechts: Alte Postkarte der Winterschule in Neustadt.
[Quelle: www.ruebenberge.de/kunst-kultur-soziales/landwirtschaftliche_winterschule.html; Abdruckgenehmigung erhalten am 26.10.2021]
Während sich im 19. Jahrhundert allmählich im Bereich der in ländlichen Gebieten liegenden Volksschulen ein ganzjähriger Unterrichtsbetrieb durchsetzen ließ, blieb die Winterschule in den weiterführenden Schulstufen und in der beruflichen Bildung weiterhin ein typisches Organisationsmodell. Bereits die 1806 in Möglin bei Berlin gegründete erste Landwirtschaftsschule, wie auch die bald danach in Schlesien oder Süddeutschland aufgebauten „landwirtschaftlichen Anstalten“ mussten als Winterschulen geführt werden, selbst nach der Einführung der obligatorischen Fortbildungsschule, wie man die Berufsschulen damals nannte, wurden diese auf dem Lande überwiegend als „Landwirtschaftliche Winterschulen“ geführt, die üblicherweise verteilt auf zwei Winterhalbjahre Fachwissen an fünfzehnjährige Knaben vermitteln sollten, welche aus Familien von kleineren und mittleren Grundbesitzern stammten. Voraussetzung war der erfolgreiche Abschluss der Volksschule, zumeist konnte mit dem Besuch der Landwirtschaftsschule dann ein mittlerer Bildungsabschluss erworben werden. Es waren zumeist Ganztagsschulen, die am Vormittag Unterricht und am Nachmittag Exkursionen und Besichtigungen oder auch praktische Tätigkeiten anboten. Teilweise waren es Einzugsschulen, so dass die Jugendlichen im heimatlichen Hof wohnen konnten. Es gab aber auch Einrichtungen mit Internatsunterbringung, die allerdings teuer waren. Mit zum Konzept der Winterschulen gehörte die „Wanderlehrtätigkeit“ der Lehrkräfte im Sommer, in denen diese die Jungbauern und ‚die elterlichen Wirtschaften‘ wiederholt besuchen und hinsichtlich „empfehlenswerter Verbesserungen“ beraten sowie „vor den bäuerlichen Kreisen“ beziehungsweise in den landwirtschaftlichen Vereinen und Versammlungen Vorträge halten oder in den ländlichen Regionen Forschungsarbeiten durchführen sollten, um ‚die in der Schule gepflanzte Saat über die Schulzeit hinaus zu pflegen und zu fördern‘. [Schmiel 1991]
Gegenwärtig gibt es, beispielsweise im Alpenraum, immer noch etliche Landwirtschaftsschulen, die als Winterschulen organisiert werden. Es kann damit nicht nur die Arbeit auf dem Hof weitergeführt werden, sondern die Winterschule lässt sich auch mit anderen Nebenerwerbstätigkeiten in Einklang bringen sowie in der Schweiz mit dem Absolvieren des Militärdienstes kombinieren. In ein umfangreiches ökologisch orientiertes Programm zur Bearbeitung von Umwelt- und Entwicklungsproblemen des Alpenraumes ist die „Winterschule Ulten“ in Südtirol integriert, das von der in acht Alpenländern angesiedelten Nichtregierungsorganisation CIPRA (Commission Internationale pour la Protection des Alpes) durchgeführt wird. In den Wintermonaten kann eine Ausbildung zur Fachkraft für umweltverträgliche Naturfaserverarbeitung absolviert werden. Auch die Fachschule für Landwirtschaft in Haldesleben (Sachsen-Anhalt) bietet die Ausbildung zur „Agrarbetriebswirt/in“ in einer einjährigen Vollzeitausbildung oder in einer zweijährigen Teilzeitausbildung im Winter an und nimmt damit wieder eine Tradition auf, die mit der Gründung als „Landwirtschaftliche Winterschule Neuhaldesleben“ begann, in der DDR nicht fortgesetzt wurde, dann jedoch 1991 wieder eingeführt worden ist. Auch Zirkus- und Schaustellerkinder können die Berufsschulpflicht während des Winterlagers in (→) Berufsschulen für gewerblich Reisende in Neumünster (Schleswig-Holstein), Nidda (Hessen) und Herne (Nordrhein-Westfalen) erfüllen.
In vielen Ländern des Globalen Südens, in denen Kinderarbeit verbreitet und das Schulwesen unzureichend ausgebaut ist oder schwierige klimatische Bedingungen herrschen, wird immer wieder auf eine saisonale Schule zurückgegriffen, die sich in den Tropen dann eher nach Regen- und Trockenzeiten richtet. So wurde beispielsweise mit Unterstützung der Technischen Hochschule Aachen in einer zu Indien gehörenden Region im Himalaya die Winterschule Sani-Zaskar gebaut. Das Null-Energie-Haus wird durch eine geschickte Verglasung trotz bitterkalter Außentemperaturen allein mit Solarenergie beheizt, und somit wird die Durchführung von Unterricht im Winter überhaupt erst möglich. Zuvor fand dort in den Wintermonaten kein Unterricht statt, und die Lehrkräfte gingen in die wärmeren Täler, um andere Verdienstmöglichkeiten zu erschließen. Winter- beziehungsweise Sommerschulen finden sich auch in den südamerikanischen Anden oder in den Wüstenregionen des afrikanischen Sahel. [www.fachschule-ravensburg.de; www.lueben-damals.de; www.ruebenberge.de; www.strickhof.ch; www.winterschule-ulten.it; www.sani-zanskar.de]
Engelbrecht, Helmut (1984): Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Band 3: Von der frühen Aufklärung bis zum Vormärz. Wien: Österreichischer Bundesverlag. – Friedrich, Gerd (1987): Das niedere Schulwesen. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band III. 1800-1870. Herausgegeben von Karl-Ernst Jeismann und Peter Lundgreen. München: C.H.Beck, 123-152. – Hoke, Rudolf; Reiter, Ilse (Hrsg.) (1993): Quellensammlung zur österreichischen und deutschen Rechtsgeschichte. Wien: Böhlau. – Neugebauer, Wolfgang (1982): Bemerkungen zum preussischen Schuledikt von 1717. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Band 31, 155-176. – Neugebauer, Wolfgang (2005): Niedere Schulen und Realschulen. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band II: 18. Jahrhundert. Herausgegeben von Notker Hammerstein und Ulrich Hermann. München: C.H. Beck, 213-259. – Reble, Albert (Hrsg.) (1971): Geschichte der Pädagogik. Dokumentationsband I. Stuttgart: Ernst Klett. – Schmiel, Martin (1991): Landwirtschaftliches Bildungswesen. In; Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band III: 1800-1870. Herausgegeben von Christa Berg. München: C.H. Beck, 306-310.