Zeltschulen

Unterricht in einem Zelt – das ist eine basale Organisationsform von Schule, die verschiedene Vorteile hat: Zelte sind „mobil“, denn sie haben kein großes Gewicht und lassen sich somit beispielsweise mit Lasttieren relativ gut transportieren sowie rasch auf- bzw. abbauen. Zelte sind in der Herstellung relativ kostengünstig, sie bieten Schutz vor Hitze und Regen, kühlen und wärmen zugleich, können also grundsätzlich ganzjährig genutzt werden. Sie sind „lebensweltnah“, denn die Nomaden nutzen Zelte für verschiedene Funktionen (kochen, schlafen, Gäste empfangen, Nahrungsmittel lagern, Tiere halten) – und eben auch zum Lernen. Oft nimmt die Lehrkraft „ihre“ Schule mit einem Lasttier mit, wo es Straßen gibt, werden die Zelte mit dem Auto zu den Weideplätzen gefahren. Manchmal übernachtet die Lehrkraft im Schulzelt und wird dann von den Nomaden mit Essen versorgt.

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Edwin Changamu besucht Jacob Long’adas mobile Schule in Kenia: er kniet gemeinsam mit einem weiteren Lehrer vor einem Dutzend barfußer Kinder, die im Halbkreis auf steinigem Boden unter freiem Himmel lernen; hinter ihnen hängen große Lernposter mit bunten Punkten.

Edwin Changamu during a visit at Jacob Long’ada’s mobile school (Kenya)

[Foto: Theresa Schaller; Abdruckgenehmigung erhalten am 26.10.2021]

Anwendung finden Zeltschulen, erstens, zur Beschulung mobil lebender Gruppen, die in der Fachliteratur zumeist als Nomaden bezeichnet werden, ein altgriechisches Wort, das „weidend“ oder „herumschweifend“ bedeutet. Weltweit gibt es vor allem Landnomaden, die überwiegend als Hirten und in der Viehzucht, manchmal auch im Warenhandel tätig sind. Man unterscheidet den Horizontalen Nomadismus, mit weiten Wanderungen innerhalb einer Vegetationszone, und den Vertikalen Nomadismus, in dem zwischen Tief- und Hochland umhergezogen wird. Wie viele Nomaden es weltweit noch gibt, ist nicht bekannt. Die UNESCO bezeichnet Nomaden als „Mobile communities“, die in der World Declaration on Education For All (Jomtien) als eine der „vulnerablen Gruppen“ identifiziert wurden. Man geht davon aus, dass über 20 Millionen Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter nomadisch leben. [Dyer 2005, 2015]

Obgleich sich der Begriff Tent school für die Organisation der Beschulung von Landnomaden durchgesetzt hat, steht der Terminus für eine gewisse Formenvielfalt: In sehr heißen und trockenen Gegenden sind es eher Mattenschulen, d. h. aus Ästen, Stroh oder Bambus werden einfache Flechtwände errichtet, um ein „Klassenzimmer“ zu markieren. Aus Kostengründen oder der Belüftung wegen verzichtet man auf ein Dach, sondern stellt die Matten im Schatten eines Baumes auf. In Kenya werden zur Begrenzung des Lernorts große, thematisch bedruckte Tücher und Stoffbeutel mit didaktischen Materialien an die Bäume gehängt (vgl. Foto). In Äthiopien spricht man von Kamelschulen, weil die Zelte und die Lernutensilien auf diesen Lasttieren transportiert werden. In manchen Ländern geht man auf den Gebrauch von Containern über, die an den verschiedenen Weideplätzen ganzjährig aufgestellt, aber nur genutzt werden, wenn die Nomaden vor Ort sind. Eine andere „moderne“ Variante sind Busschulen, die zu Lernräumen umgebaut werden. In Deutschland erfolgt die (→) Beschulung von Kindern sogenannter beruflich Reisender, also z.B. von Schausteller- und Zirkuskindern, häufig mit Wohnmobilen, die als Reisende Schulen bezeichnet werden. [Hendershot 1965; Dyer 2005, 2015; Attaran et al. 2012; Schaller/Würzle 2021]

Für die Seenomaden werden Bootsschulen eingesetzt. Vor allem in der Inselwelt in Süd- und Südostasien leben Familien auf Booten, um Warenhandel zu betreiben oder/und im Fischfang tätig zu sein. In Indonesien, Malaysia oder auf den Philippinen reisen Lehrkräfte in Booten zu den Ankerplätzen oder Anlegestellen, um dort den Unterricht durchzuführen. In Nigeria experimentiert man mit Floating Schools, die in den großen Pfahlbauten-Siedlungen im Nigerdelta Unterricht anbieten. Die schwimmenden Schulen verwenden regional vorhandene Materialien, vor allem Holz: „Die Form der Schule erinnert durch die Dreiecks-Form an ein Zelt. Allerdings gibt es in diesem ‚Zelt‘ drei Ebenen, die insgesamt 220 Quadratmeter groß sind. Die unterste Ebene bildet einen grünen Freiraum, der als Spielplatz von den Schülern genutzt werden soll. Eine Ebene darüber liegt das Hauptklassenzimmer, die dritte Ebene ist als ‚Open-Air‘-Zimmer gedacht.“ Der Prototyp ist bei einem heftigen Sturm zertrümmert worden, dennoch gilt die Idee als sehr nachhaltig. [www.architektur-wasser.de]

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In Deutschland werden hingegen die (→) Kinder der Binnenschifffahrt traditionell in eigens für sie eingerichteten Heimschulen unterrichtet. Internate gibt es auch für Landnomaden, wie zum Beispiel das Desert Center, das unter anderem im Oman implementiert wurde. Diese Einrichtungen haben standardisiert vier Räume für die Schule und zwei für den Gesundheitsdienst, außerdem einige Zimmer, in denen Nomaden übernachten können, dazuhin eine kleine Moschee, Wasseranlage, Tankstelle und Polizeistation sowie sechs Häuschen, in denen das Personal wohnt. Zwar ähnelt die Schule einem Internat, allerdings verbringen die Schüler lediglich vier Tage pro Woche dort, drei Tage sind sie bei ihren Familien. [Chatty 2005; Dyer 2015]

Ein zweiter Anwendungsbereich der Zeltschulen ist die Sicherstellung von Unterricht in Krisengebieten, dies wird auch als Emergency Education bezeichnet. Nach schweren Erdbeben oder Überschwemmungen, wenn die Schulgebäude zerstört worden sind oder zur Unterbringung der Menschen genutzt werden müssen, kommt im Rahmen der Katastrophenhilfe die School-in-a-Box zur Anwendung. Die internationalen Hilfsorganisationen halten standardisierte Kisten bereit, die mit Wohnzelten und anderer Infrastruktur rasch in die Krisengebiete geschafft werden können, u. a., weil sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass „normaler“ Schulunterricht für die Kinder wichtig ist und ein Stück weit dadurch Traumatisierungen verhindert oder bearbeitet werden können. [Bensalah 2002]

„The School-in-a-Box has become part of the UNICEF standard response in emergencies, used in many back-to-school operations around the world. The kit contains supplies and materials for a teacher and up to 40 students. The purpose of the kit is to ensure the continuation of children's education by the first 72 hours of an emergency. In addition to the basic school supplies, such as exercise books, pencils, erasers and scissors, the kit also includes a wooden teaching clock, wooden cubes for counting, a wind-or/solar radio and a set of three laminated posters (alphabet, multiplication and number tables). The kit is supplied in a locked aluminium box, the lid of which can double as a blackboard when coated with the special paint included in the kit. Using a locally developed teaching guide and curriculum, teachers can establish makeshift classrooms almost anywhere. The contents of the kit are culturally neutral, can be used anywhere in the world, and are often supplemented by locally purchased products, such as books in local languages, toys, games and musical instruments. Exercise books are printed without margins, so that children who write from left to right or from right to left can use them.” [www.unicef.org.supply/]

Auch die (→) Flüchtlingsschulen in den halb-geschlossenen Lagern sind oftmals als Zelt- oder Containerschulen organisiert. So sorgt der Verein Zeltschulen e.V. (München) in den Flüchtlingscamps im Libanon, direkt an der syrischen Grenze gelegen, nicht nur für die regelmäßige Beschulung der Kinder und Jugendlichen, sondern bietet auch Grundbildung für Erwachsene und sogar eine berufsvorbereitende Qualifizierung im Zelt an. In den Bildungsangeboten unterrichten überwiegend Lehrkräfte, die selbst aus Syrien geflüchtet sind, dort bereits pädagogisch gearbeitet haben und im Camp leben. Die „ZeltZeit – Zeltschule Zeitung“ berichtet regelmäßig über die Arbeit des Vereins.  [www.zeltschule.org]

Kinder und Jugendliche aus Nomadenfamilien, die eine Behinderung haben, werden eher nicht in mobilen Zeltschulen, sondern in stationären Schulen des regulären Bildungssystems unterrichtet. Die soziale Lage von Menschen mit Behinderung im Zusammenhang einer nomadischen Lebensweise ist allerdings nur ganz selten erforscht oder politisch berücksichtigt. Auch im World Wide Web findet sich nur ein einziger Hinweis auf eine Selbstorganisation in Kenya, die sich mit dieser Fragestellung befasst. [www.namati.org]

Attaran, Mohammad; Siraj, Saedah; Norlidah Alias (2012): Nomadic Learning Culture: Narratives of a Teacher. In: Life Science Journal 9 (4), 5943-5948. – Bensalah, Kacem (Ed.) (2002): Guidelines for Education in Situations of Emergency and Crisis. Paris: UNESCO. – Chatty, Dawn (2005): Boarding Schools for Mobile Peoples: The Harasiis in the Sultanate of Oman. In: Dyer, Caroline (Ed): The Education of Nomadic Peoples: Issues, Provisions and Prospects. Oxford and New York: Berghahn Press, 213-231. – Dyer, Caroline (Ed.) (2005): The Education of Nomadic Peoples: Issues, Provisions and Prospects. Oxford and New York: Berghahn Press. – Dyer, Caroline (2015): Evolution in approaches to educating children from mobile and nomadic communities. Background paper prepared for the Education for All Global Monitoring Report 2015. Paris: UNESCO. – Hendershot, Clarence (1965): White Tents in Mountains: A Report on the Tribal Schools of Fars Province. Washington: Communication Resource Branch, US AID. – Schaller, Theresa; Würzle, Ruth (2021): Mobile Schools. Pastoralism – Ladders of Learning – Teacher Education. Opladen: Verlag Barbara Budrich.