Begriffe
Eine konsensuale übergreifende Bezeichnung für die in diesem Lexikon beschriebenen Schulen gibt es nicht – weder in der deutschsprachigen noch in der international-vergleichenden Erziehungswissenschaft. Gleichwohl werden in diesem Zusammenhang häufig die folgenden Begriffe verwendet.
Alternative School
In Kanada werden für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche so genannte Alternative School Programs vorgehalten. Solche Angebote zur Beschulung von Heranwachsenden in schwierigen Lebenslagen gibt es dort mindestens seit den 1960er-Jahren. Die Lehrkräfte, die in diesen Schulen arbeiten, werden als Alternative Teachers bezeichnet, etliche kanadische Hochschulen bieten Bachelor- oder Masterprogramme in Alternative Education an. Denn auch Kanada schafft es bislang nicht, alle Kinder und Jugendlichen in den inklusiven allgemeinbildenden Schulen zu halten, ab der Klassenstufe sechs gibt es einen quantitativ markanten Schulabsentismus, ebenso führen eine frühe Schwangerschaft, Delinquenz oder eine massive Suchtproblematik häufig zur Exklusion aus dem Bildungssystem. [The Mc Creary 2008; Smith et al. 2015]
Wie in Europa schließt auch in Kanada dieses pädagogische Diskursfeld an den Begriff (→) „Vulnerabilität“ an, mit dem die sozialen Risiken bezeichnet werden, in Armut und soziale Exklusion zu geraten, die Kindern und Jugendlichen das erfolgreiche Durchlaufen des Schulsystems erschweren können. In Kanada werden schulpflichtige Heranwachsende in zwei Risiko-Gruppen unterteilt:
„At-risk youth“ sind von einer gravierenden individuellen Problemlage betroffen (Alkohol- oder Drogenkonsum, schwere psychische Erkrankung, Obdachlosigkeit, Missbrauchs- und Diskriminierungserfahrungen, frühe Schwangerschaft, Kriminalität).
„High-risk youth“ haben zudem die Verbindung zu ihrer Herkunftsfamilie, zu ihrer Stammschule und/oder zur Community verloren.
Im Schulsystem werden für die beiden Gruppen unterschiedliche Bildungs- und Unterstützungsprogramme angeboten, jedenfalls bis die zehnjährige Schulpflicht erfüllt ist. Die Schulbehörden (School District Boards) erfassen „Vulnerable students“, deren Familien in sozio-ökonomisch angespannten Verhältnissen leben. Für schulpflichtige Minderjährige, die durch intensiven und länger andauernden Schulabsentismus, durch schwieriges Verhalten, Gewalthandlungen im Unterricht, Drogenkonsum oder Drogenhandel in der Schule oder Strafanzeigen auffallen und in den Bildungseinrichtungen nicht mehr tragbar sind, leitet die Schulverwaltung ein behördliches Verfahren ein. Sie versucht zunächst, mit den Eltern und der Jugendhilfe (die den Sozialbehörden angegliedert ist) eine zusätzliche außerschulische Unterstützung zu organisieren, um die Kinder und Jugendlichen sozial einzubinden bzw. zu stabilisieren, und auf diesem Weg den „drop out“ möglichst zu verhindern. Wenn dies nicht gelingt, wechseln die Schülerinnen und Schüler in eine „Alt School“; die meisten dieser Kinder und Jugendlichen können in ihren Familien verbleiben, einzelne kommen in ein Heim, die entweder im Familienansatz von Hauseltern oder im Wohngruppenkonzept von sozialpädagogischen Fachkräften geführt werden. [Schroeder 2018]
“Alternative Schools are defined as programs that meet the special requirements of students who may be unable to adjust to the requirements of regular schools (for example timetables, schedules, or traditional classroom environment). […] Alternative education programs are designed to assist youth to reconnect and remain engaged with their education, despite other challenges they may be facing in their lives. Low teacher-to-student ratios and the additional supports of teaching assistants and youth care workers allow alternative education programs’ staff to gain an indepth knowledge of youth, assess their educational, emotional and practical needs, build positive relationships, identify their optimum learning style, and offer additional supports as required. It also ensures programs that can offer flexibility in their delivery methods, with both teacher-directed learning and self-paced courses. Finally, the diverse range of alternative education programs ensures that youth are offered a supportive atmosphere and the chance to meet other young people with similar experiences. Examples include programs for pregnant and parenting youth, programs for Aboriginal youth, intensive behaviour intervention programs, and programs for youth on probation” [The McCreary 2008, 7 und 40].
Sozialer Ausschluss zwingt auch das kanadische Schulsystem dazu, „andere“ – „alternative“ – Wege zu gehen, um Schulbesuch und -erfolg benachteiligter Jugendlicher und junger Erwachsener zu sichern. Die meisten Projekte haben einen speziellen Alters- bzw. Stufenbezug und unterscheiden sich insbesondere in ihren konzeptionellen Schwerpunktsetzungen: Abschlussorientierung, Sicherung des Übergangs von der Elementary in die Secondary Education bzw. von der Secondary in den Job, Einbindung der Jugendlichen in soziale Projekte der Community (Youth Hub), Unterstützung für junge Eltern (Young Parents Program) oder „Out door“ Pädagogik (Take a Hike). Etliche „Alternativschulen“ sind zwar regulären Secondary Schools angegliedert, stellen aber eigenständige Bildungsgänge dar, andere können konzeptionell mit der Secondary School verbunden sein oder es werden lediglich die Räumlichkeiten der Public School genutzt. Einzelne Projekte sind in Trägerschaft der Jugendhilfe (Public Youth Care). Der Bildungsdiskurs ist auch in den Alternativschulen überwiegend auf die Erlangung eines allgemeinbildenden Schulabschlusses hin ausgerichtet, eine systematische Vorbereitung auf die Arbeitswelt ist in Kanada nicht vorgesehen. [Schroeder 2018]
In Deutschland oder in Großbritannien gibt es ebenfalls Begriffe wie Alternativschule oder Alternative Education, die indes eher reformpädagogische Erziehungs- und Bildungsvorstellungen der mittleren sozialen Milieus fassen. Als charakteristische Merkmale solcher Einrichtungen nennt beispielsweise Oskar Negt, dass sie kontextgebunden sind und versuchen, neue Antworten auf drängende Kindheitsprobleme zu finden; dass sie experimentell sind und sich durch explizite oder indirekte Kritik am Bestehenden auszeichnen und somit immer auch Rückwirkungen auf die „Normalpädagogik“ haben. In diesem Verständnis sind Alternativschulen eher „Experimentierfelder“ pädagogischer Utopien und schulische „Gegenentwürfe“. Dem Begriff Alternativpädagogik liegt somit eine normative Dichotomisierung zugrunde, indem der krisengeschüttelten öffentlichen „Normalschule“ die reformierte (und zumeist private) „Alternativschule“ gegenübergestellt wird. [Maas 2003; Negt 2003; Kraftl 2013)
Die Alternative School Programms in Kanada sind jedoch gerade keine reformpädagogischen „Gegenorte“ zum staatlichen Schulsystem, sondern ein untrennbarer Teil des öffentlichen Bildungswesens, der sich aus einer Problemlage – den prekären Lebensbedingungen – legitimiert und sich in darauf bezogenen profilierten Bildungsangeboten konstituiert. Mit diesem Selbstverständnis sind sie vergleichbar mit den in diesem Lexikon beschriebenen Schulen in Deutschland und anderswo.
Kraftl, Peter (2013): Geographies of Alternative Education. Diverse learning spaces for children and young people. Bristol: Policy Press. – Maas, Michael (2003): Alternativschule und Jugendkultur. Entwicklungsprobleme von Adoleszenten. Weinheim und Basel: Beltz. – Negt, Oskar (2003): Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche. Göttingen: Steidl. – Schroeder, Joachim (2018): „Jugendschulen“ in Kanada. In: Sonderpädagogische Förderung heute 63, 2, 121-131. – Smith, Annie; Stewart, Duncan; Poon, Collin; Peled, Maya; Saewyc, Elisabeth (2015): Our communities, our youth: The health of homeless and street-involved youth in British Columbia. Vancouver, BC: McCreary Centre Society. – The Mc Creary Centre Society (2008): Making the Grade: A review of Alternative Education Programs in British Columbia. Vancouver, BC: McCreary Centre Society.