Begriffe
Eine konsensuale übergreifende Bezeichnung für die in diesem Lexikon beschriebenen Schulen gibt es nicht – weder in der deutschsprachigen noch in der international-vergleichenden Erziehungswissenschaft.
Ersatzschule
Das deutsche Schulrecht kennt den Begriff der staatlich anerkannten Ersatzschule. Es finden sich auch Bezeichnungen wie Schulersatzprojekt, schulersetzende oder schulanaloge Maßnahme. Obwohl überwiegend in freier Trägerschaft oder in Verantwortung der örtlichen bzw. überörtlichen Kinder- und Jugendhilfe geführt, sind sie ein Bestandteil des öffentlichen Bildungswesens. Fast alle der in diesem Lexikon dargestellten Schulen in Deutschland haben den juristischen Status der Ersatzschule.
Artikel 7 des Grundgesetzes gewährleistet in Abschnitt (4) das Recht zur Errichtung von privaten Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen. Sie benötigen die Genehmigung des Staates, unterstehen den Landesgesetzen und dürfen in ihren Lehrzielen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen. Die Betriebserlaubnis ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist. Wichtig ist auch das sogenannte Sonderungsverbot, das heißt, eine Privilegierung der Schülerinnen und Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern darf durch die Privatschulen nicht gefördert werden. Eine Erhebung von Schulgeld ist damit eingeschränkt bzw. muss durch Schulgeldnachlässe, Erziehungsbeihilfen, Geschwisterermäßigung und Stipendien ausgeglichen werden. [Deutscher Bundestag 2007]
Weitere Bestimmungen wurden 1951 von der Kultusministerkonferenz (KMK) in der „Vereinbarung zur (Wieder-) Zulassung von Privat-, Ersatz- und Ergänzungsschulen“ geregelt. Will eine Ersatzschule staatlich anerkannt werden, muss sie den Regelungen des Schulgesetzes entsprechen, in dem sie angesiedelt ist. Dann können Schülerinnen und Schüler in dieser ihre Schulpflicht ableisten. Ersatzschulen können finanziell staatlichen Schule gleichgestellt sein, haben aber kein Recht darauf. Sie können staatliche Berechtigungen (Schulabschlüsse) erteilen. Private Ergänzungsschulen hingegen, beispielsweise Sprach- oder Musikschulen, haben einen minderen Rechtsstatus gegenüber den Ersatzschulen und den staatlichen Schulen, sie dürfen zumeist keine Schulabschlüsse vergeben, sondern Prüfungen müssen vor externen Prüfungsausschüssen abgelegt werden. [KMK 1951]
Die ersten Ersatzschulen wurden in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland für Kinder und Jugendliche ohne deutsche Staatsangehörigkeit genehmigt. So richteten die Besatzungstruppen und später die NATO-Streitkräfte zumeist eigene Schulen und sogar Universitäten ein. Nach längeren Auseinandersetzungen wurden auch die „Displaced Persons“, also während des Krieges zur Zwangsarbeit nach Deutschland verbrachte so genannte „Fremdarbeiter“, auf Entscheidung der Militärregierungen in eigenen ukrainischen, lettischen oder litauischen (Ersatz-)Schulen unterrichtet, bis die Rückkehr der ab 1951 als „Heimatlose Ausländer“ bezeichneten Personen geklärt war. Die Schulen für das Personal internationaler Organisationen – beispielsweise Europaschulen, die auf Abkommen der EU beruhen – haben ebenfalls fast immer einen Ersatzschulstatus. Die Schulsprache ist die Staatssprache des Herkunftslandes, unterrichtet wird nach den Lehrplänen des Herkunftslandes, zumeist stammen auch die Lehrkräfte von dort. Die Kulturhoheit der Länder der Bundesrepublik ist somit in hohem Maße eingeschränkt. [Hansen/Wenning 2003, 105-120]
Auch im Jugendstrafvollzug wird die Beschulung zumeist in Ersatzschulen organisiert. Die (→) Gefängnisschulen im „geschlossenen“ Vollzug (die Haftzeit ist unter Verschluss abzusitzen) und dem „offenen“ Vollzug (die Inhaftierten dürfen tagsüber, an Wochenenden oder auch über längere Zeit die Strafanstalt verlassen, um ‚draußen‘ einer Arbeit nachzugehen, eine Schule zu besuchen oder bei der Familie zu sein) sowie die (→) Forensikschulen im Maßregelvollzug benötigen den Ersatzschulstatus, weil sie den jeweiligen Justizbehörden und nicht den Schulbehörden unterstehen. Überdies kennt das Jugendstrafrecht auch den „freien Vollzug“ (§ 91 Abs. 3 Jugendgerichtsgesetz), der den jugendlichen Straftätern gestattet, die Haft statt in einer der Justiz unterstehenden Jugendstrafanstalt in einer (→) Schule (in Trägerschaft) der Jugendhilfe zu verbringen. Die wenigen Schulen im freien Vollzug, die es in Deutschland gibt (→ Gefängnisschulen), sind schulrechtlich ebenfalls Ersatzschulen.
Mit der Neufassung des Achten Sozialgesetzbuches in den 1990er Jahren, ist der Kinder- und Jugendhilfe ein Bildungsauftrag erteilt worden und die „Kinder- und Jugendbildung“ wurde zu einem sozialpädagogischen Arbeitsfeld. Obwohl es auch schon zuvor Ersatzschulen der Jugendhilfe gab, zu nennen sind insbesondere die privaten Sonderschulen und Heimschulen der Kirchen und Wohlfahrtsverbände, haben die gesetzlichen Neuerungen im SGB VIII womöglich die vermehrte Einrichtung von (→) Schulen der Jugendhilfe befördert. Es gibt unterschiedliche Formen der Organisation: In manchen Bundesländern ordnet die Schulbehörde Lehrkräfte an das Jugendamt ab, sodass diese dann die Beschulung in den Jugendhilfeeinrichtungen durchführen und unter der Dienst- bzw. Fachaufsicht der Jugendbehörden stehen. Vereinzelt werden Ersatzschulen auch den Schulbehörden zugeordnet, allerdings sind diese ganz selten vollumfänglich von diesen finanziert. Somit sind sie den Regel- und Sonderschulen rechtlich nicht gleichgestellt, sondern sie arbeiten in Trägerform (beispielsweise eines Vereins oder einer GmbH) und unter Projektbedingungen. Oftmals erhalten sie von den Behörden nur ein Grundbudget und müssen notwendige Mittel zusätzlich immer wieder neu in Bundes- bzw. EU-Programmen beantragen. [KMK 2006; Akkaya et al. 2019]
Akkaya, Pia; Helbig, Marcel; Wrase, Michael (2019): Voraussetzung sozialer Verantwortung – Privatschulfinanzierung in den deutschen Bundesländern. Darstellung und Vergleich der Finanzierungssysteme für allgemeinbildende Ersatzschulen in den 16 Ländern. Abschlussbericht zum Projekt, gefördert von der Max-Traeger-Stiftung und der BGAG-Stiftung. Discussion Paper, P 2019-006. – Deutscher Bundestag – Wissenschaftliche Dienste (2007): Zur Zulässigkeit einkommensunabhängiger Schulgelder an Ersatzschulen. Sachstand. Berlin: WD 3 -441/07. – Hansen, Georg; Wenning, Norbert (2003): Schulpolitik für andere Ethnien in Deutschland. Zwischen Autonomie und Unterdrückung. Münster: Waxmann. – KMK (1951): Vereinbarung der Kultusministerkonferenz zur (Wieder-) Zulassung von Privat-, Ersatz- und Ergänzungsschulen von 1951. – KMK (2006): Übersicht über die Finanzierung der Privatschulen in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Zusammenstellung des Sekretariates der Kultusministerkonferenz (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 12.03.2004 i.d.F. vom 22.06.2006).