Begriffe

Eine konsensuale übergreifende Bezeichnung für die in diesem Lexikon beschriebenen Schulen gibt es nicht – weder in der deutschsprachigen noch in der international-vergleichenden Erziehungswissenschaft.

Jugendschule

Unter dem Begriff Jugendschulen werden in der erziehungswissenschaftlichen Forschung schulische Einrichtungen subsumiert, die sich auf den erschwerten Zugang junger Heranwachsender zum Beschäftigungssystem beziehen. Anfänge der Debatte lassen sich in der reformpädagogischen Arbeitsschulbewegung des frühen 20. Jahrhunderts ausmachen, als bereits intensiv um Schulen des Jugendalters und einer gezielten Vorbereitung des Übergangs in die Arbeitswelt reflektiert wurde. So legte unter anderem Fritz Blättner 1937 in einer ersten Version und dann in einer überarbeiteten Form 1963 mit dem Buch „Die Methoden des Unterrichts in der Jugendschule“ einen umfassenden Begründungszusammenhang und schulpädagogischen Entwurf zu dieser Thematik vor. Er kritisierte, dass die Schule eine „verminderte Gelehrtenschule“ sei und keine Antworten habe auf die Probleme vieler Jugendlicher, in Lohnarbeit zu gelangen. In einer Jugendschule sollten Wissensbestände, Fertigkeiten und Fähigkeiten vermittelt werden, die zur Bewältigung solcher Herausforderungen sowie auf eine umfassende Lebenshilfe für die Schülerinnen und Schüler ausgerichtet sind. [Blättner 1963]

Vom Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen wurde in den 1960er Jahren der Begriff „Jugendbildung“ in ähnlicher Weise aufgenommen und mit dem Vorschlag verknüpft, einen schulischen Bildungsgang zu konzipieren, in dem in einem auf die spezifischen Bedürfnisse benachteiligter Jugendlicher im Alter von etwa vierzehn bis achtzehn Jahren bezogenen Sekundarstufenkonzept allgemein-, berufs- und sozialpädagogische Elemente eng miteinander verzahnt sein sollten. Denn bereits mit der Gründung der Bundesrepublik begann eine bildungspolitische Auseinandersetzung um eine grundlegende Reform der Volksschule, die nicht zuletzt aufgrund des Lehrstellenmangels und der hohen Jugendarbeitslosigkeit als eine sozialpolitische Notwendigkeit betrachtet wurde. Die neue „Volksschuloberstufe“ sollte orientiert sein am Konzept der Jugendbildung, um die Mädchen und Jungen, vor allem in den letzten beiden Schuljahren, auf der Grundlage praktischen Könnens und Verstehens für verschiedene Lebensbereiche der modernen Welt – und insbesondere der Arbeits- und Berufswelt – vorzubereiten. Das neu geschaffene Fach Arbeitslehre sollte in den oberen Klassen der Hauptschule die Annäherung an die Anforderungen des Arbeitsmarkts gewährleisten. [Deutscher Ausschuss für das Bildungswesen 1959, 1964].

In der Schulpädagogik taucht der Begriff „Jugendschule“ dann wieder ab den 1980er Jahren in solchen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen auf, die sich mit benachteiligten Jugendlichen befassen: Es finden sich konzeptionelle Entwürfe für „Jugendschulen“ in der Pädagogik beruflicher Förderung und Rehabilitation bei Behinderung und vor allem bei sozialer Benachteiligung, in der Debatte um die Zukunft der Gesamtschulen oder im Bemühen, Schul- und Sozialpädagogik einander anzunähern. Auch international wird über „Youth schools“ reflektiert. Adressiert werden Jugendliche, die mit den üblichen Angeboten der Regel- und Sonderschulen nichts anzufangen wissen oder weil deren Herkunftsschulen oftmals mit solchen nicht-normgerechten Jugendlichen nicht klar kommen. In einer nüchternen Betrachtungsweise werden diese Konflikte zwischen Schule und Jugendlichen als pädagogische Passungsprobleme interpretiert und es wird gefordert, neben den üblichen Angeboten der Regel- und Sonderschulen weitere Konzepte zu entwickeln, mit denen maßgeschneidert auf Lebenslagen reagiert werden kann, die üblicherweise nicht im Reflexionshorizont der Schule sind. [Wocken 1982, Lisop/Huisinga 1984, Liebau 1993, Hiller 1994, Konopka 1996, Virolainen 1996, Mack 1999, Preuss-Lausitz 2001, Herz 2005, Sahlberg 2006, Schroeder 2006].

Da sich oftmals die gewachsene Distanz zwischen Jugendlichen und Schulen mit den herkömmlichen Mitteln nicht verringern oder gar überbrücken lasse, sei es müßig, mit immer neuen Maßnahmen zu versuchen, diese Jugendlichen ins Regelschulsystem zurückzuführen. Aussichtsreicher sei vielmehr, angemessene Konzepte anzubieten, die auf die prekären Lebenssituationen, die ressourcenarmen Lebenswelten und die wenig aussichtsreichen Lebensperspektiven dieser Jugendlichen ausgerichtet sind. Auch wenn im Detail recht unterschiedliche Konzepte für solche Einrichtungen entworfen wurden, lassen sich die Vorschläge dahingehend bündeln, dass es sich im Kern vor allem um eine Zusammenführung alltagsorientierter sozial-, berufs- und kulturpädagogischer Ansätze zu anspruchsvollen Schulprogrammen für die Heranwachsenden in benachteiligenden Milieus handelt. Statt „durch immer neue Mätzchen“ die öffentliche Schulen „in das Prokrustesbett des gymnasialen Schulmodells zu zwingen“, gehe es „im Blick auf die Jugendschule darum, den Alltag und die Möglichkeiten der Alltagsbewältigung der Kinder des unteren Drittels der Gesellschaft“ in den Mittelpunkt zu stellen: „Es geht also nicht um die Neuauflage einer ‚volkstümlichen Bildung‘ im neuen Gewande, sondern um eine effektive Qualifizierung für die für die Mehrheit dieser Kinder zu erwartenden Lebenslagen“ [Liebau 1993, 152f.].

In solchen programmatisch-konzeptionellen Entwürfen deuten sich Ideen zur Gestaltung von Schulen an, die oftmals weit über das hinausgehen, was an Vorschlägen für Schulreformen ansonsten zu finden ist. Fasst man den Begriff „Jugendliche“ nicht nur in der engen Altersdefinition des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, also 14 bis 18 Jahre, sondern nimmt man zur Kenntnis, dass sich bereits in der Primarstufe für das Kinderalter vielfältige Schulprobleme aus den Lebenslagen ergeben, die überdies auch mit dem Ende der Schulpflicht bei Erreichung der Volljährigkeit oftmals noch nicht beendet sind oder durch neue Probleme fortgesetzt werden; fasst man die „Jugendbildung“ nicht nur als pädagogische „Alternative“ für das Regel- und Sonderschulsystem, sondern akzeptiert man, dass solche Konzepte gerade aufgrund schwieriger Lebenslagen in (→) Ersatzschulen oftmals besser angeboten werden können; und fasst man diese Bildungseinrichtungen mit Liebau als „Lebenslagenschulen“, dann wäre die Bezeichnung „Jugendschule“ als Oberbegriff für die in diesem Lexikon präsentierten Schulkonzepte durchaus treffend, obgleich der Begriff (→) Schulen der Jugendhilfe womöglich noch präziser ist.    

Blättner, Fritz (1963): Die Methoden des Unterrichts in der Jugendschule. Weinheim: Beltz. – Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen (1959): Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens. Bonn: KMK. – Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen (1964): Empfehlungen zum Aufbau der Hauptschule. Stuttgart: Klett. – Herz, Birgit (2005): „...Du kannst nicht immer gewinnen.“ Das Projekt Jugend mit Perspektive: Ein Hamburger Modell zur Integration bildungsbenachteiligter junger Menschen in die Arbeitswelt. Münster: Waxmann. – Hiller, Gotthilf Gerhard (1994): Jugendtauglich. Konzept für eine Sekundarschule. Ulm-Langenau: Vaas. – Konopka, Dieter (1996): Zehn Jahre Freie Schule Hamburg in der Honigfabrik. Eine Schule für postmoderne Zeiten. Rückblick und Vorblick. Wilhelmsburg: Eigendruck. – Liebau, Eckart (1993): Schulkultur, Oberschule und Jugendschule. Perspektiven einer jugendorientierten Bildungsreform. In: Die Deutsche Schule 85, 2, 141-156. – Lisop, Ingrid; Huisinga, Richard (1984): Bildung zum Sozialschrott? Ausbildungsbeeinträchtigte? 10. Schuljahr und ihre spezielle Pädagogik. Frankfurt/Main: Serapion. – Mack, Wolfgang (1999): Bildung und Bewältigung. Vorarbeiten zu einer Pädagogik der Jugendschule. Weinheim: Deutscher Studienverlag. – Preuss-Lausitz, Ulf (2001): Gesamtschule als zukunftsfähige Jugendschule? Folgen der veränderten Jugend für die Sekundarstufe. In: Die Deutsche Schule 93, 3, 155-166. – Sahlberg, Pasi (2006): Raising the bar: How Finland responds to the twin challenge of secondary education? In: Profesorado. Revista de curriculum y formación del profesorado 10, 1, 3-26. – Schroeder, Joachim (2006): Jugendschulen – Konzeptionelle Ansätze für die pädagogische Arbeit mit markt-, sozial- und rechtsbenachteiligten jungen Menschen. In: Spies, Anke; Tredop, Dietmar (Hrsg.): „Risikobiografien“. Benachteiligte Jugendliche zwischen Ausgrenzung und Förderprojekten. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 207-221. – Virolainen, Mari (1996): Post-15 strategies and the experimental reform of Finnish upper secondary schools. In: Lasonen, Johanna (Ed.): Reforming upper secondary education. Jyvaskyla: Institute for Educational research, University of Jyvaskyla. – Wocken, Hans (1982): Didaktische Leitideen der Schule für Lernbehinderte. Ein Beitrag zur Theorie der Sonderschule. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 33, 9, 637-647.