Begriffe
Eine konsensuale übergreifende Bezeichnung für die in diesem Lexikon beschriebenen Schulen gibt es nicht – weder in der deutschsprachigen noch in der international-vergleichenden Erziehungswissenschaft.
Vulnerable Gruppen
Nicht nur in Kanada (→ Alternative Schools), auch im europäischen Kontext spielt derzeit der Begriff „Vulnerabilität“ eine besondere theorie- und praxisleitende Rolle. Er bezeichnet „im Wesentlichen den Grad der Risiko- bzw. Schadensanfälligkeit oder auch -ausgesetztheit von Personen, Personengruppen, Gesellschaften, Infrastrukturen, Systemen und (Lebens-) Räumen und wird auf verschiedene Kontexte – soziale, politische, ökonomische, geografische, klimatische oder seit kurzem auch pädagogische usw. – angewandt. [...] Vulnerabilität [beschreibt] das Maß der Verwundbarkeit in Bezug auf eine gegebene Gefahr. Die jeweilige Verletzbarkeit setzt sich aus nachteilig wirkenden Faktoren und vorteilhaften Anteilen zusammen. Neben einer (potentiellen oder tatsächlichen) Anfälligkeit beinhaltet das Konzept der Vulnerabilität zugleich stets verfügbare Bewältigungs- und /oder Anpassungsstrategien: Risiken und Ressourcen bilden die Komponenten der Vulnerabilität“ [Burghardt et al. 2017, 19].
Auch die Sozialpolitik der Europäischen Gemeinschaft verwendet aktuell den Leitbegriff „Vulnerability“ und unterscheidet eine Reihe von „Vulnerable groups“, die in vielen, vermutlich in allen Ländern der Europäischen Gemeinschaft von sozialer Exklusion betroffen sein können, weil sie eine Behinderung haben oder nicht vollumfänglich arbeiten können, weil sie ohne festen Wohnsitz sind oder die Schule nicht mit einem Abschluss beenden konnten (vgl. Kasten). Sie haben ein erhöhtes Risiko, in Armut zu geraten und einen Einstieg in den Arbeitsmarkt zu finden, manche sind von sozialer Isolation bedroht; deshalb werden sie auch als „Risk groups” bezeichnet. Überdies gibt es zahlreiche strukturelle Ursachen der Vulnerabilität, beispielsweise geringe Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Partizipation, Ausschluss von den sozialen Sicherungs-, Bildungs- und Unterstützungssystemen etc. Gleichwohl zeigen sich auch nationale und regionale Besonderheiten: So gibt es noch in wenigen europäischen Ländern soziale Gruppen mit einer nomadischen Lebensweise, manche ethnischen Minderheiten siedeln regional begrenzt, Ein- und Auswanderung kann sozialräumlich sehr unterschiedlich verlaufen. Nicht zuletzt sind die nationalen und regionalen Schul- bzw. Kinder- und Jugendhilfegesetze mal mehr mal weniger exkludierend bzw. inkludierend angelegt. [Ecotec 2012; EC 2013; Eurofound 2013]
Vulnerable groups
In the context of learning, the definition of disadvantaged groups in education and training in general as well as on an individual programme basis usually refers to the following sub-groups:
People with special needs
People with disabilities
Immigrants
Specific ethnic groups
Older learners
Groups facing socio-economic disadvantage
Prisoners and ex-offenders
Refugees
Apart from the above-mentioned groups, the following additional groups were identified by various National Agencies:
People with poor literacy and numeracy skills
Individuals with little or no formal education
Part-time workers
Workers approaching the pensionable age
Underachievers (especially teenagers)
Travellers
Migrant workers and the children of migrants
Newcomers (who may not be the same group as refugees)
Looked-after children (children living away from home, e.g. in foster care)
Institutionalized children
Children whose both parents work abroad
People living in rural areas or deprived city areas (inner cities)
Drug addicts
The homeless
People who have caring responsibilities
Single parents with small children
Other vulnerable groups (victims of violence, people with mental health disorders)
With regard to these classifications, it is generally also highlighted that the above-mentioned groups are not mutually exclusive and some individuals face multiple disadvantages.
[ECOTEC 2012]
Für alle in der Liste aufgezählten vulnerablen Gruppen gibt es historisch oder aktuell spezielle Konzepte bzw. Organisationsformen der Beschulung. Denn vulnerable Gruppen können sowohl erhebliche Probleme im Zugang zur öffentlichen Schule haben, der Verbleib in einer Bildungseinrichtung ist oftmals aus den verschiedensten Gründen nicht gewährleistet, und nach Unterbrechungen kann die Rückkehr in das Schulsystem schwierig werden. Häufig gibt es keine geeigneten alternativen Bildungsangebote oder es ist den zuständigen Behörden nicht bekannt, dass Kinder oder Jugendliche gar nicht die Schule besuchen. Sozioökonomische Faktoren gefährden das Lernen ebenso wie Diskriminierungen, die staatlichen Lehrpläne berücksichtigen häufig nicht die Bedürfnisse einer Vielzahl unterschiedlicher Lernenden, die Lernumgebung ist physisch unzugänglich, ungesund oder sogar unsicher, es kann sprachliche Schwierigkeiten geben oder die Organisation des Bildungsangebots passt nicht zur Lebenslage. [UNESCO 2003]
Die Konstruktion von Gruppen sozialer Benachteiligung ist selbst hochriskant, weil solche Verfahren zur Essentialisierung und Homogenisierung neigen oder sich, trotz aller Umsicht in der Anwendung dieser Methodik, in der öffentlichen Rezeption stereotype und vorurteilsreproduzierende Zuschreibungen der Bezeichneten nicht vermeiden lassen. Deshalb ist es beispielsweise eher nicht empfehlenswert, von den „Schulen vulnerabler Gruppen“ oder „Schulen für Risikokinder“ zu sprechen. Dass es aber nicht nur Unterschiede zwischen individuellen Lebenslagen gibt, sondern die Lebenslagen ganzer sozialer Milieus – und damit sozialer Gruppen – ein hohes Risiko zeigen, von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen zu werden, dürfte mit Ernst niemand bestreiten. In einer solchen Perspektive würde man Vulnerabilität weniger wie Burghardt et al. es tun, als einen anthropologischen Begriff verwenden, sondern auf die gesellschaftlich produzierte Vulnerabilität fokussieren, wie es Paugam vorschlägt. Castel nennt dies die „Zonen der Verwundbarkeit“ der Gesellschaft – und dort gibt es immer auch Schulen. [Castel 2008; Paugam 2008; Burhardt et al, 2017]
Burghardt, Daniel; Dziabel, Nadine; Höhne, Thomas (2017): Vulnerabilität. Pädagogische Herausforderungen. Stuttgart: Kohlhammer. – Castel, Robert (2008): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz: UVK. – EC (2013): Social Protection and Social Inclusion Glossary. DG Employment, Social Affairs and Inclusion. www.ec.europa.eu/employment_social/spsi/vulnerable_groups_en.htm. – ECOTEC (2012): Inclusion. Mapping of the current state of participation of disadvantaged/under-represented groups in the Lifelong Learning Programme since 2007. Synthesis Report. www.llpinclusion.eu/default.asp. – Eurofound (2013): Access to employment for vulnerable groups. European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions. Luxembourg: Office for Official Publications of the European Communities, 2002. www.eurofound.europa.eu/pubdocs/2002/44/en/1/ef0244en.pdf. – Paugam, Serge (2008): Die elementaren Formen der Armut. Hamburg: Hamburger Edition. – UNESCO (2003): Overcoming Exclusion through Inclusive Approaches in Education. www. unesco.org.